Nicht oft findet das zeitgenössische Kino Zeit für anarchistische Bewegungen – ob historische oder gegenwärtige. Mit Cyril Schäublins „Unruh“ lässt sich nun ein Film im Kino ansehen, der eine für den organisierten Anarchismus bedeutsame Zeit betrachtet.
St. Imier, im Schweizer Juragebirge, in den 1870er Jahren. Hier, im Zentrum der Uhrenproduktion, befindet sich auch ein Zentrum der anarchistischen Bewegung, geprägt von Ideen der Pariser Kommune und internationalen Arbeiterkämpfen. 1872 hat sich hier nach der Spaltung der Ersten Internationalen (Anarchisten auf der einen und Marxisten auf der anderen Seite) die Antiautoritäre Internationale, ein Zusammenschluss von bestehenden anarchistischen Föderationen, gegründet.
Trotz des historischen Hintergrundes ist „Unruh“ aber kein Historienfilm, keine Propaganda und keine Geschichte der Juraföderation oder dezentral organisierten Uhrmacherateliers – vielmehr handelt es sich um eine sorgfältige, detaillierte, philosophische und atmosphärische Beobachtung von Geschichte und Zeit, von Zeitmessung und Geschichtsschreibung, von Ordnung und Verordnung.
Die ‚Unruh’, das Schwingsystem, welches in mechanischen Uhren den Takt vorgibt, wird von Arbeiterinnen in einer Fabrik verbaut, in der die Uhren „Fabrikzeit“ anzeigen, auf dem Nachhauseweg orientiert man sich an der „Gemeindezeit“ und die Züge fahren nach „Telegrafenzeit“ – die Zeit, menschengemacht und von Menschen gemessen, ist hier noch ein wackliges Konstrukt, das fragmentiert und unzuverlässig erscheint, trotz der gerühmten Zuverlässigkeit der Schweizer Uhren.
Während nun die anarchistische Gewerkschaft die Krankenversicherung alleinstehender, diese ‚Unruh’ herstellende, Arbeiterinnen übernimmt, anarchistische Presse international berichtet und anarchistische Propaganda einen zentralen Aspekt politischer Öffentlichkeit bildet, steht den progressiven Kräften in St. Imier ungezügelter Kapitalismus und ein von der Bourgeoisie favorisierter Schweizer Nationalstolz gegenüber – die Anarchisten singen „Arbeiter kennen kein Vaterland“ während Fabrikbesitzer und Nationalisten Schweizer Geschichte mit einer Intonation von „Rufst Du mein Vaterland“ gedenken.
Im Gegensatz zur Schweizer Nationalgeschichte gehört die Geschichte anarchistischer Massenbewegungen der Arbeiterklasse heute nicht zum Kanon der Geschichtsschreibung – einer Geschichtsschreibung, die oftmals in Inhalt, Form und Verfahren Hierarchien begünstigt und aufrecht erhält. „Unruh“ antwortet diesem Dilemma traditioneller Geschichtserzählung erfolgreich in der Sprache des Kinos.
Die ‚dezentrale’ Erzählung, der Verzicht auf Hauptprotagonisten und weite, langsame Bilder ermöglichen den Zuschauern einen Einstieg in die Thematiken von Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, der nicht lauthals belehrt, sondern vielstimmig und vielsprachig kleinen und kleinsten Gesten Raum gibt. „Unruh“ ist damit kein eindeutiges Bekenntnis und kein Aufruf zum anarchistischen Kommunismus, aber die verschachtelte Beobachtung von Menschen und ihren Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen lässt wenig andere Schlüsse zu.
So schreibt Kropotkin, der als Kartograph St. Imier bereist, später das auf, was dem Film vorangestellt wird: „Und als ich die Berge nach gut einer Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.“
Die anarchistische Bewegung ist in ihrer Bedeutung heute nicht mit der des 19. Jahrhunderts zu vergleichen, aber Geschichte, Geschichtsschreibung und das Bewahren der Geschichte bleibt existenzieller Bestandteil einer lebendigen Tradition der Arbeiterklasse – und „Unruh“ ist nicht nur ein nachdenklicher Einblick in anarchistische Organisation des vorletzten Jahrhunderts, sondern durchaus auch ein Lehrstück in unorthodoxer filmischer Erinnerungspraxis.
Unruh. Schweiz 2022. Regie, Drehbuch & Schnitt: Cyril Schäublin. Kamera: Silvan Hillmann. U.a. mit: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder
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