Eine „Jahrhunderttrilogie“ mit Anarcho-Syndikalisten hat Renate Kinzel aus Konstanz verfasst. Hübsch gestaltete Bücher beim „Biografieverlag“ mit insgesamt etwa 650 Seiten, erschienen 2021 und 2022. Der Titel lautet „Zwischen den Wenden“ und beleuchtet die Zeit ab etwa 1914 bis ins Jahr 2000. Im Zentrum der ersten beiden Bände stehen ihre Eltern Erwin und Frieda Kinzel (1908-1977). Erwin (1910-1997) engagierte sich in Berlin um 1930 in der anarcho-syndikalistischen Theatergruppe „Kampftruppe Es blitzt“.
Sie sollten zu verschiedenen Veranstaltungen der FAUD auftreten, auch als Vorprogramm zu einer Sacco-Vanzetti-Gedächtnisfeier mit Rudolf Rocker und Fritz Linow, doch wurde dieser Auftritt polizeilich verboten. Seine Tochter Renate läßt Erwin zu deren Tätigkeiten im Roman ausführlicher zu Wort kommen. Erst später kam er mit Frieda zusammen, die zu diesem Zeitpunkt weniger politisch orientiert war. 1933 verpasste Erwin eine Straßenbahn zu einem illegalen anarchistischen Treffen und hatte Glück, dass er dadurch einer Razzia entging. 1950 zogen sie nach Köln und wurden von Genossen der Föderation freiheitlicher Sozialisten (FFS) unterstützt. Die Autorin (Jahrgang 1940) rekonstruiert ihre Erinnerungen und stützt sich auf viele Erzählungen ihrer Eltern, besonders der Mutter. Nur wenig später zieht die Familie an den Bodensee, schließlich nach Konstanz. Anfang der 1950er Jahre verkehrten sie des Öfteren in der Zentrale der FFS, bei Gretel Leinau, die diese Organisation als Sekretärin inoffiziell zusammenhielt. Sie war neben Fritz Linow die eigentliche Macherin und wohnte in Nieder-Beerbach bei Darmstadt auf einem alten Bauernhof. Dort fanden die Bundestreffen der FFS statt. Auch Helmut Rüdiger und Augustin Souchy kamen als Delegierte zu Besuch oder um Urlaub zu machen. Gleiches tat dort auch Renate als Kind. Ihre Mutter war nicht nur mit Gretel Leinau, sondern auch mit Grete Saballa befreundet, mit der sie in Köln in der wieder aufgebauten anarcho-syndikalistischen „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ aktiv war. Um 1955 erlöschen die Erinnerungen an diese Phase des versuchten Aufbaus anarcho-syndikalistischer Organisationen.
Und um fair zu sein: Das Politische oder gar der Anarcho-Syndikalismus stehen nicht im Zentrum der Trilogie. Es ist die Sicht eines Kindes, das ein besonderes Licht auf diese Zeiten wirft. Wie hat ein Kind dasjenige wahrgenommen, was ich so gerne wissenschaftlich rekonstruiere? Die Autorin zeichnet die Aktiven der 1950er Jahre als solidarischen Zusammenschluß, wobei die Aufopferung von Gretel Leinau für die Genossen deutlich wird. Die großen Männer des internationalen Anarcho-Syndikalismus werden von ihr tagelang auch finanziell ausgehalten, beköstigt und bei Laune gehalten. Souchy als Nacktbader – das gabs in Nieder-Beerbach. Ein letztes kleines Licht auf den Anarcho-Syndikalismus gibts im letzten Band, als Erwin nach 1990 Kontakte zu Genossen in Ostberlin wieder aufnahm. Zu wem, das bleibt, auch auf Nachfrage, im Dunkeln. Frieda starb relativ jung an den Folgen von Demenz, Erwin pflegte sie. Seiner Liebe zum Theater blieb er treu und konnte die letzten Jahrzehnte seines Lebens am Konstanzer Theater auftreten. Zudem verfasste er eine Mischung aus Genre und Literaturgattung, die ich bislang nicht kannte, nämlich einen Krimi in Balladenform: „Der Tod kam in Latschen“. In den späten 1970er Jahren begleitete er seinen erst 12-jährigen Enkelsohn zu dessen ersten anarchistischen Veranstaltung. Erwins ausführliche Erinnerungen an seine anarcho-syndikalistische Zeit um 1930 haben wir übrigens seiner Putzhilfe zu verdanken, die ihn drängte, es aufzuschreiben. Eine Woche später starb der 86-Jährige während einer Theaterprobe.
Auch sonst finde ich diese Familienchronik einprägend, weil Renate Kinzel den kommenden Generationen die Besonderheiten und Selbstverständlichkeiten der vorgestellten Epochen angenehm verständlich macht. Sie erklärt vieles ausführlich, was bald nicht mehr geläufig sein wird und baut damit eine Brücke zwischen den Generationen.
„‘Irmler’ war ein Lokal in Berlin-Treptow mit Saal und Bühne. 1929 veranstaltete hier die Freie Arbeiter-Union ihre Feier zum ersten Mai. Als wir uns nach der Feier zum üblichen Umzug aufstellen wollten, wurden wir von einem Polizeiaufgebot in den Saal zurückgedrängt, wobei die ‚blauen Abführmittel‘, wie Walter Mehring sie genannt hatte, ihrer Aufforderung mit dem Gummiknüppel Nachdruck verschafften. Im Frühjahr 1930 gründeten mein Freund Herbert und ich eine freiheitlich-sozialistische Spieltruppe, mit der wir am ersten Mai bei Irmler zum ersten Mal auftraten. Wir versuchten in dieser Zeit, in der der Ruf nach dem starken Mann immer lauter und die Gefahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten immer größer wurde, den Chor der warnenden Stimmen zu verstärken. Das war natürlich ärgerlich weniger für die Hitleranhänger als für die Staatsorgane der Republik, die für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatten. Für sie war die Frechheit eines Häufleins junger Leute, die Stimme gegen die aufziehende Gefahr zu erheben, ärgerlicher als das Gegröle von Hetzparolen durch die braunen Horden. So kam es zu Schikanen, die von Vorladungen bis zu Auftrittsverboten reichten. Einmal hatten wir uns eine Szenenfolge zum Gedenken an Sacco und Vanzetti geschrieben, die in den USA nachweislich unschuldig zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt worden waren, und deren Hinrichtung auch nicht durch die Protestkundgebungen in allen Teilen der Welt verhindert werden konnte. Regie führte der junge Leopold Lindberg, der zu Erwin Piscators Ensemble gehörte. Die Aufführung des Stückes, in das wir auch eine Szene aus Erich Mühsams ‚Staatsraison‘ eingebaut hatten, wurde verboten. In einer Sonntagsmatinee spielten wir das Stück dann für eine geschlossene Gesellschaft. Bei einer Veranstaltung im Herbst 1932 wirkte der damals schon bekannte – und deshalb gefährdete – Theodor Plivier mit. Er las aus seinem Buch ‚Des Kaisers Kuli[s]‘, und unsere Truppe umrahmte das Programm mit einigen aktuellen Szenen. Plötzlich stürmte eine Gruppe Polizisten in den Saal, vorneweg ein Polizeileutnant, laut und vernehmlich’ Aufhören!‘ schreiend. Das Publikum applaudierte wie wild, bis es merkte, dass dies kein Regieeinfall, sondern echt war. Plivier war schnell durch den Hintereingang entwichen, während wir in dem aufkommenden Tumult unsere Requisiten ergriffen und uns auch verzogen. Das neue Programm, an dem wir bastelten, konnte nicht mehr auf die Beine gestellt werden.“ (Seite 62 ff.)
Die Regierung Hitler kam an die Macht und die Gruppe wurde aufgelöst. Auf dem Weg zum letzten illegalen Treffen verpasste er die Straßenbahn, kam zu spät und erfuhr, dass alle Teilnehmer an Ort und Stelle verhaftet wurden. Auch eine Hausdurchsuchung hatte keine bösen Folgen, denn: „Ich suchte alles zusammen, was man belastendes Material nennen konnte [darunter Adresslisten der Mitglieder], und stand die ganze Nacht am Küchenherd, einen Stoß Papier nach dem anderen verbrennend. Als ich am Morgen zur Arbeit gehen wollte, kam mir auf der Treppe die Hausmeisterin entgegen, die mich kannte, seit ich ein kleiner Junge war: ‚Morjen, Erwin‘, sagte sie, ,det kannst doch bloß du jewesen sein, der da die janze Nacht Papier verbrennt und durch den Schornstein jejacht hat. Sach mal, wat haste dir dabei jedacht? Wat meenste wohl, wat die Nachbarn denken? Na, jeh mal runter und kiek dir et an! Det sieht wunderschön aus, det schwarze, verkohlte Papier auf dem weißen Schnee. Also weeste, Erwin, forn bisschen schlauer hätt ick dir ja jehalten.“ (Seite 63 f.)
„Wir waren Mitglieder der ‚Gilde freiheitlicher Bücherfreunde’, wir besuchten Vorträge über Literatur, Sexualreform und Freidenkertum. Und einige unserer jungen Frauen und Männer gehörten dem Ensemble der Kampftruppe ‚es blitzt‘ an, einer proletarischen Laienbühne. Meist leitete sie einen Vortragsabend oder eine Feierstunde ein mit Szenen, die von der Tagespolitik bestimmt waren: Arbeitslosigkeit, Polizeiwillkür, reaktionäres Treiben in Betrieben und Schulen. Es waren im Grunde Agitprop-Aufführungen ohne künstlerischen Anspruch, aber sie trafen bei mir einen entscheidenden Nerv – die Liebe zum Theater.“ (Seite 56)
„Ich erinnere mich an den 1. Mai 1932. Die FAUD hatte zu einer großen Maifeier aufgerufen, die im Saal des Gartenrestaurants ‚Löwen-Böhmisch‘ in der Landsberger Allee stattfand. Unsere FAJ [Freie Arbeiterjugend] hatte auch dort einen Tisch aufgebaut mit Transparenten, Fotos und ‚jugendbewegtem‘ Propagandamaterial. Der Saal war knüppelvoll, die Atmosphäre fröhlich-feierlich. Niemand hatte wohl daran gedacht, dass er hier den letzten 1. Mai unter noch immerhin freien Bedingungen feiern würde. Selbst als dann Erich Mühsam an das Podium trat und in einer zündenden Rede auch auf die drohende Gefahr von rechts hinwies, trübte das die Feststimmung nicht. Dann das Kulturprogramm: Die Kampftruppe ‚es blitzt‘ trat auf, Ilse Trautschold sang Chansons und dann der Clou: die Tanzkunst der [Jo] Mihaly. Ich hatte nie zuvor Bühnentanz gesehen – außer dann und wann eine Girl-Truppe im Kino. Aber was sich hier darbot, war mehr als Tanz. Das war getanzte Dichtung. Ich war überwältigt, als sie in ‚Vision eines Kriegers‘ gestisch, mimisch, pantomimisch Tod und Verderben, Trauer und Leid zur Schau brachte. Ihre Schlussposition wurde zur Kampfansage, zur Mahnung ‚Nie wieder Krieg!‘“ (Seite 55)
Literaturverzeichnis