Happy Birthday, Peter Kropotkin!


anarchismus.de Kollektiv Christian Danckworth
Geschichte Philosophie

„Jede Gesellschaft, die mit dem Privateigentum gebrochen hat, wird nach unserer Meinung gezwungen sein, sich in anarchistisch-kommunistischer Form zu organisieren. Die Anarchie führt zum Kommunismus und der Kommunismus zur Anarchie; das eine wie das andere ist nur Ausdruck der in den modernen Gesellschaften vorherrschenden Tendenz: des Strebens nach der Gleichheit“
- Peter Kropotkin

Heute, am 9.12. ist der Geburtstag des bedeutenden Anarchisten Peter Kropokin. Er wurde im Jahre 1842 in Moskau geboren und gilt heute nicht nur als einer der bekanntesten Anarchist:innen sondern vor allem als einer der wichtigsten Vertreter:innen des kommunistischen Anarchismus. Kropotkin wirkte nicht nur als Anarchist, sondern auch als Geograph und Wissenschaftler.
Er kritisierte in seinem Werk und Wirken die Thesen der herkömmlichen sozialdarwinistischen Auffassungen, indem er dem Kampf ums Dasein in der Tierwelt das Konzept der gegenseitigen Hilfe gegenüberstellte und beide als Faktoren der Evolution benannte. Kropotkin konnte wissenschaftlich nachweisen, dass gegenseitige Hilfe sogar in der Tierwelt praktiziert wird.
Er konnte mit seinem Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ sogar moderne Naturwissenschaftler:innen beeinflussen.

Er wurde adeliger Herkunft geboren und gehörte familiär zur russischen Aristokratie.
Kropotkin fing aber schon in seiner Jugend an, die Ungerechtigkeit dieser gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen.
Er wurde militärisch unter anderem Mitglied des Pagenkorps, für dieses wurde er persönlich von Zar Nikolaus I. ausgewählt. Es folgten weitere militärische Aktivitäten, diese beendete er aber schließlich und begann in Petersburg ein mehrjähriges, mit praktischen Forschungen verbundenes Studium der Geographie und erwarb sich bald ein großes wissenschaftliches Ansehen. Kropotkin erkannte die Notwendigkeit, sein Wirken mehr und mehr im Sinne der Schaffung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse zu widmen. Es kam daraufhin bei ihm zu einem Bruch mit der Gesellschaft und seiner ursprünglich privilegierten Stellung und Herkunft.
Spätestens nach einem Aufenthalt Kropotkins in der Schweiz und dort bei den anarchistischen Schweizer Uhrmacher:innen bekannte er sich endgültig zum Anarchismus.

Die „freie Vereinbarung“ sollte für sein sich nun entwickelndes Konzept des anarchistischen Kommunismus/des kommunistischen Anarchismus ein zentrales Organisationsprinzip sein, welches an die Stelle von Zwang und Gesetz treten sollte. Kropotkins Konzeption des anarchistischen Kommunismus ging davon aus, dass mit der modernen Technologie und den auf ihr basierenden Produktivkräften für die Menschheit allgemeiner Wohlstand geschaffen werden kann, in welchem Armut und Ausbeutung überwunden werden könne. Dem steht seiner Meinung nach der Kapitalismus und die Herrschaft von Menschen über Menschen im Wege.

Peter Kropotkin lebte unter anderem viele Jahre in London, wo er als Wissenschaftler und Privatgelehrter tätig war. 1917, nach Ausbruch der Oktoberrevolution, kehrte er nach über vierzigjährigem Exil nach Russland zurück, wurde jedoch in seinen Hoffnungen, die Revolution würde in anarchistische Bahnen gelenkt, sehr enttäuscht. Nach und nach verschwanden immer mehr Anarchist:innen in den Gefängnissen der Bolschewiki. Im Februar 1921 starb Kropotkin durch eine Lungenentzündung, unmittelbar vor dem Aufstand von Kronstadt. Repräsentant:innen verschiedener anarchistischer Gruppen, darunter auch die sehr bekannten Anarchist:innen Alexander Berkman und Emma Goldman, bildeten ein Begräbniskomitee und konnten von den sowjetischen Autoritäten teilweise die Freilassung eingesperrter russischer Anarchist:innen erreichen, unter der Bedingung, dass diese nach dem Begräbnis wieder in die Gefängnisse zurückkehren würden. Bei seiner Beerdigung folgten zehntausende Menschen seinem Sarg. Es war die größte Manifestation des russischen Anarchismus und gleichzeitig sein Ende, bereits ein Jahr später saßen alle Anarchist:innen in Russland in Gefängnissen, waren in Sibirien oder mussten das Land verlassen.

Dieses sollte für heutige antiautoritäre, anarchistische Bewegungen eine wichtige Lehre sein. Der Leninismus und schließlich folgerichtig der Stalinismus führten zur autoritären Parteidikatur, nicht zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse. Diese Parteidiktatur war nicht kommunistisch, sondern hatte sich zum Staatskapitalismus entwickelt. Für die heutige Zeit ist es äußerst wichtig, anzuerkennen, dass eine herrschaftsfreie und klassenlose Weltgesellschaft nur antiautoritär und staatenlos sein kann.

Kropotkins kommunistischer Anarchismus unterschied sich dadurch klar von den autoritären Parteikommunist:innen, welche sich und die Gesellschaft auf der Basis des sogenannten »demokratischen Zentralismus« und des Staates aufbauten und immer noch aufbauen wollen. Zentralismus und Staat aber führen nicht zur Freiheit, sondern zu neuen Herrschaftsverhältnissen, das hat die Geschichte gezeigt. Eine anarchistische Gesellschaft muss dezentral-föderalistisch aufgebaut sein und das Privateigentum an Produktionsmitteln, Häusern und Grund und Boden aufheben. Und damit auch die Lohnarbeit als gesellschaftliches Verhältnis der kapitalistischen Klassengesellschaft überwinden. Wie schon von Kropotkin erarbeitet, muss diese neue Gesellschaft auf der Basis von gegenseitiger Hilfe, freier Vereinbarung und Kooperation statt Konkurrenz geschaffen werden. Aber, und auch das ist sehr wichtig: sie muss auch das Patriarchat, jeden Rassismus, Antisemitismus, jede Form von Diskriminierung und jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen generell überwinden.

Lasst uns an seinem Geburtstag Peter Kropotkin gedenken und uns durch seine Ideen und Konzepte des kommunistischen Anarchismus inspirieren. Seine Publikationen sind weiterhin wichtig und lesenswert für eine anarchistische, klassenkämpferische Bewegung.
Autor: Christian Danckworth, 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus Kropotkins „Der Anarchismus – seine Philosophie/sein Ideal“:

Vorwort 1923

Der Inhalt dieser Schrift, eine der vorzüglichsten, welche Kropotkin geschrieben hat, war eigentlich als Vortrag gedacht, den er am 6. März 1896, im Saale des Tivoli-Vauxhal zu Paris halten sollte. Allein als er seinen Fuß auf französischen Boden setzen wollte, verweigerte man ihm die Landung, sodaß er gezwungen war, unverrichteter Sache nach England zurückzukehren. Unter diesen Umständen entschloß er sich, seinen Vortrag schriftlich erscheinen zu lassen und ihn in dieser Form dem Publikum zu unterbreiten. Die Schrift erschien noch im Juni desselben Jahres und erlebte in kurzer Zeit verschiedene Auflagen und zahlreiche Übersetzungen in fremde Sprachen. — Der ungehaltene Vortrag Kropotkins ist ein glänzendes Resümee seiner grundlegenden Ideen, die er der Reihe nach in seinen größeren Werken niedergelegt und entwickelt hat. Alles, was er in seiner langen und rastlosen Tätigkeit auf den verschiedensten Gebieten der sozialen Wissenschaften geleistet hat, fügt sich in dieser Schrift in kurzen Strichen synthetisch zu einem Ganzen zusammen und gewährt dem Leser einen lichtvollen Einblick in die Gedankengänge des genialen Denkers und seiner großen Vorgänger. Möge sie nun auch in deutscher Sprache ihren Zweck erfüllen und dem freiheitlichen Sozialismus neue Kräfte werben, um einer neuen sozialen Kultur den Weg zu bahnen, welche der Menschheit die Pforten zu einer besseren Zukunft öffnen wird.
Neukölln, im Mai 1923 R. Rocker.

Der Anarchismus - Seine Philosophie / Sein Ideal

Genossinnen und Genossen! Nicht ohne Zögern habe ich mich entschlossen, zum Gegenstand dieser Vorlesung die Philosophie und das Ideal des Anarchismus zu nehmen.
Jene, die überzeugt sind, daß der Anarchismus nur eine Zusammenstellung von Zukunftsvisionen und ein unbewußter Vorstoß gegen die Zerstörung der ganzen bestehenden Zivilisation ist, sind noch sehr zahlreich, und, um den Weg von den Vorurteilen unserer Erziehung frei zu machen, müßte man sich vielleicht mit Fragen befassen, die man bei einer Vorlesung nicht gut erörtern kann. Ist es nicht erst 2 oder 3 Jahre her, daß die große Pariser Presse behauptete, die einzige Philosophie des Anarchismus sei die Zerstörung, sein einziges Argument - die Gewalt?

Man hat indessen neuerdings soviel von den Anarchisten gesprochen, daß ein Teil des Publikums schließlich unsere Doktrinen gelesen und diskutiert hat. Bisweilen hat man sich sogar die Mühe gegeben, darüber nachzudenken, und augenblicklich ist wenigstens ein Punkt gewonnen. Man räumt gern ein, daß der Anarchist ein Ideal besitzt. Man hält dies sogar für zu schön, zu erhaben für eine Gesellschaft, die nicht nur aus Elite- Menschen besteht.

Aber — es ist nicht meinerseits zu anspruchsvoll, von einer Philosophie da zu sprechen, wo — nach Aussage unserer Kritiker — es nur bleiche Visionen einer fernen Zukunft gibt? Darf der Anarchismus behaupten, eine Philosophie zu besitzen, wenn man es ablehnt, eine Philosophie des Sozialismus anzuerkennen?

Auf diese Frage will ich versuchen zu antworten — und zwar so genau und so klar wie möglich. Ich bitte Sie, dabei im voraus zu entschuldigen, wenn ich ein oder zwei Beispiele wiederhole, die ich bereits in einer Vorlesung in London erwähnt habe, und die, — so scheint es mir, — ein besseres Verständnis für das ermöglichen, was man unter „Philosophie des Anarchismus“ zu verstehen hat (s. Le Temp Nouveaux. Veröffentlichung der „Revolte“, Paris 1894).

Sie werden es mir hoffentlich nicht verübeln, wenn ich zuerst einige Elementarbeispiele aus der Naturwissenschaft anführe. Nicht, um unsere sozialen Ideen davon abzuleiten. — Keineswegs! Sondern nur, um gewisse Beziehungen besser klar machen zu können, die man leichter in den von den exakten Wissenschaften festgestellten Erscheinungen erkennt, als in den so komplizierten Tatsachen der menschlichen Gesellschaften.

Was uns nun jetzt bei den exakten Wissenschaften vor allem ins Auge fällt, ist die große Einschränkung, die sie seit einigen Jahren in der ganzen Art erfahren, wie sie die Tatsachen des Universums anfassen und erklären.

Es gab bekanntlich eine Zeit, in der sich der Mensch die Erde als Mittelpunkt des Weltalls dachte. Die Sonne, der Mond, die Planeten und die Sterne schienen sich um unsern Erdball zu drehen, und dieser stellte für den Menschen, der ihn bewohnte, den Mittelpunkt der Schöpfung dar. Er selbst — als höchstentwickeltes Wesen auf seinem Planeten — war der Auserwählte der Schöpfung. Die Sonne, der Mond und die Sterne waren nur seinetwegen da. Auf ihn verwandte ein Gott seine ganze Aufmerksamkeit. Er wachte über der geringsten seiner Handlungen, hielt für ihn die Sonne in ihrem Laufe auf, glitt mit den Wolken und schleuderte seine Wogen oder seinen Donner über Dörfer und Städte, um die Tugend zu belohnen oder die Verbrechen der Bewohner zu sühnen. Durch Tausende von Jahren hat der Mensch auf diese Weise das Weltall aufgefaßt.

Es ist Ihnen jedoch bekannt, welche ungeheure Veränderung das 16. Jahrhundert in allen Anschauungen des Menschen hervorbrachte, als ihm bewiesen wurde, daß, weit davon entfernt, der Mittelpunkt des Universums zu sein, die Erde nur ein Staubkorn im Sonnensystem ist — nur eine Kugel — weit kleiner als andere Planeten; daß die Sonne selbst, dieses überwältigende Gestirn im Verhältnis zu unsrer kleinen Erde, — nur ein Stern unter so vielen zahllosen andern Sternen ist, die wir am Himmel glänzen und in der Milchstraße sich drängen sehen. Wie klein erschien der Mensch gegenüber dieser unbegrenzten Ausdehnung, wie lächerlich erschienen seine Behauptungen! Die ganze Philosophie jenes Zeitabschnitts, alle sozialen und religiösen Anschauungen atmen diese Umwandlung in den kosmischen Ideen. Erst von jenem Zeitpunkt stammen die Naturwissenschaften ab, auf deren heutige Entwicklung wir so stolz sind.

Aber eine noch tiefer gehende Veränderung von noch unendlich größerer Tragweite ist im Begriff, sich in der Gesamtheit der Wissenschaften anzubahnen, und der Anarchismus ist, wie Sie sehen werden, nur eine der mannigfachen Manifestationen dieser Entwicklung. Er ist nur ein Zweig der neuen Philosophie, die sich ankündigt.

Nehmen sie eine beliebige Arbeit über Astronomie aus dem Ende des vergangenen oder dem Anfang des jetzigen Jahrhunderts. Sie finden selbstverständlich darin unsern kleinen Planeten nicht mehr als Mittelpunkt des Weltalls hingestellt. Aber Sie begegnen bei jedem Schritt der Idee von einem ungeheuren Zentralgestirn — der Sonne, — die durch ihre gewaltige Anziehungskraft unsere Planetenwelt beherrscht. Von diesem Zentralgestirn strahlt eine Kraft aus, die den Gang seiner Satelliten leitet und die Harmonie des Systems aufrechterhält. Aus einer Zentralanhäufung hervorgegangen, sind die Planeten sozusagen nur Sprößlinge davon. Dieser Anhäufung verdanken sie ihre Entstehung. Dem strahlenden Gestirn, das diese noch darstellt, verdanken sie alles: den Rhythmus ihrer Bewegungen, ihre weise verteilten Bahnen, das Leben, das ihre Oberfläche belebt und schmückt. Und wenn irgend welche Störungen ihren Lauf verwirren und sie von ihrer Bahn abbringen, stellt das Mittelgestirn die Ordnung im System wieder her. Es sichert ihre Existenz und verleiht ihnen Beständigkeit.

Diese Anschauung schwindet nun ebenso, wie die andre geschwunden ist. Nachdem der Astronom seine ganze Aufmerksamkeit auf die Sonne und die großen Planeten verwandt hat, begibt er sich jetzt an die Erforschung der unendlich kleinen Körper, die das Weltall bevölkern. Und er entdeckt, daß die Himmelsräume nach allen denkbaren Richtungen hin mit kleinen, unsichtbaren Schwärmen von Materie bevölkert und durchzogen sind, die, wenn man sie einzeln betrachtet, nichts bedeuten, aber durch ihre Zahl allmächtig sind. Unter diesen Massen sind einige, wie der feurige Körper, der neulich durch seinen Fall in Spanien Schrecken verbreitete, noch von ziemlicher Größe. Andre wiegen kaum einige Gramm oder Zentigramm; während um sie herum noch fast mikroskopische Staubkörnchen schweben, die den Weltraum anfüllen.

Und mittels dieser Staubkörnchen, dieser unendlich kleinen Körper, die den Raum in allen Richtungen mit schwindelerregender Geschwindigkeit durcheilen, aneinander stoßen, sich zusammenballen und sich trennen, überall und immer, sucht der Astronom heute den Vorsprung unsres Systems zu erklären, — die Sonne, die Planeten und die Satelliten, — die Bewegungen, die seine verschiedenen Teile beleben, und die Harmonie seiner Gesamtheit. Noch ein Schritt weiter, und bald wird die allgemeine Anziehungskraft selbst nur noch eine Resultante aller ungeordneten oder unzusammenhängenden Bewegungen dieser unendlich kleinen Körper sein — dieser Atomschwingungen, die nach allen nur möglichen Richtungen stattfinden.

So wird der Mittelpunkt, der Ursprung der Kraft, der von der Erde auf die Sonne verlegt wurde, jetzt verteilt, dezentralisiert: er ist überall und nirgends. Mit dem Astronomen bemerkt man, daß die Sonnensysteme nur das Werk der unendlich kleinen Körper sind, daß die Kraft, die man für die herrschende hielt, selbst — vielleicht — nur die Resultante der Stöße jener unendlich kleinen Körper ist; daß die Harmonie der Sternensysteme nur deshalb Harmonie ist, weil sie eine Anpassung, eine Resultante aller jener unzähligen, zusammenfallenden und einander ausgleichenden Bewegungen ist.

Die ganze Auffassung des Universums wechselt mit dieser neuen Anschauungsweise. Die Idee von der weltregierenden Kraft, dem vorherbestimmten Gesetz, der innewohnenden Harmonie schwindet, um jener Harmonie Platz zu machen, die Fourier einst geahnt hatte, und die nur die Resultante dieser zahllosen Schwärme von Materie sind, von denen jeder einzelne seinen Weg geht, und die einander im Gleichgewicht halten.

Wenn es im übrigen nur die Astronomie wäre, die jenem Wechsel unterlag! Aber nein! Die gleiche Änderung erfuhr die Philosophie aller Wissenschaften ohne Ausnahme: sowohl jene, die die Natur zum Gegenstand haben, wie jene, die die menschlichen Beziehungen behandeln.

In der Physik schwinden die Begriffe: Wärme, Magnetismus, Elektrizität. Wenn heute ein Physiker von einem erhitzten oder elektrisierten Körper spricht, sieht er keine unbelebte Masse mehr, der sich eine unbekannte Kraft zugesellt. Er bemüht sich, in diesem Körper und in dem ihn umgebenden Raume, den Gang, und die Schwingungen der unendlich kleinen Atome zu erkennen, die sich nach allen Richtungen hin bewegen, schwingen, streben, leben und — durch ihre Schwingungen, ihre Stöße, ihr Leben — die Erscheinungen von Wärme, Licht, Magnetismus oder Elektrizität hervorbringen.

In den Wissenschaften, die das organische Leben behandeln, verblaßt die Anschauung von der „Art“ und ihren Variationen und wird durch die Anschauung vom Individuum ersetzt. Der Botaniker und der Zoologe studieren das Individuum — sein Leben, seine Anpassungsfähigkeit an das Milieu. Veränderungen, die sich in ihm vollziehen — unter der Einwirkung der Trockenheit oder der Nässe, der Wärme oder der Kälte, des Überflusses oder des Mangels an Nahrung, seiner größeren oder geringeren Sensibilität gegenüber den Einflüssen des äußeren Milieus — gebären die Arten. Und die Veränderlichkeiten der Art sind für den Biologen nur noch Resultanten — Summen von Veränderungen, die sich in jedem Individuum getrennt vollziehen. Die „Art“ wird das sein, was die Einzelwesen sind, von denen ein jedes die zahllosen Einwirkungen der Umgebung, in der es lebt, erleidet, und auf welche ein jedes auf seine Weise antwortet.

Und wenn die Physiologie von dem Leben einer Pflanze oder eines Tieres spricht, so sieht sie dabei eher eine Anhäufung, eine Kolonie von Millionen getrennter Individuen, als eine einzige und unteilbare Persönlichkeit. Sie spricht von einer Verbindung von Organen für Verdauung, Sinne, Nerven usw., die alle sehr eng mit einander verknüpft sind, und die alle die Rückschläge des Wohl- oder des übelbefindens des Einzelnen spüren, aber doch ein jedes sein eigenes Leben leben. Jedes Organ, jede Organmenge, ist aus unabhängigen Zellen zusammengesetzt, die sich verbinden, um gegen die ihrer Existenz ungünstigen Bedingungen zu kämpfen. Das Individuum ist eine ganze Welt voll Verbindungen, es ist ein ganzer „Kosmos" für sich!

Und in dieser Welt erkennt der Physiologe die autonomen Zellen des Blutes, der Gewebe, der Nervenzentren. Er sieht die Milliarden weißer Körperchen — die Phagozyten —, die nach den Stellen des Körpers drängen, die von den Mikroben infiziert sind, um den Eindringlingen eine Schlacht zu liefern. Ja, noch mehr: In jeder mikroskopischen Zelle entdeckt er heute eine Welt von autonomen Elementen, von denen jedes sein eigenes Leben lebt, für sich selbst Wohlbefinden erstrebt und dieses durch die Gruppe die Verbindung mit anderen Elementen erreicht. Kurz, jedes Individuum ist ein Kosmos von Organen, jedes Organ ist ein Kosmos von Zellen, jede Zelle ist ein Kosmos unendlich kleiner Elemente. Und in diesem Komplex hängt das Wohlbefinden der Gesamtheit gänzlich von der Summe des Wohlbefindens ab, dessen sich jede der kleinsten mikroskopischen Parzellen der organischen Materie erfreut.

Eine ganze Revolution wird auf diese Weise in der Philosophie des Lebens herbeigeführt.

Zum weiterlesen, findet Ihr den vollständigen Text hier
Christian Danckworth ist Teil von reso.media, die vor Kurzem eine neue Broschüre zu Kropotkin herausgegeben haben, die hier bestellt werden kann.

Christian Danckworth

Christian ist Teil von reso.media und fühlt sich dem Anarcho-Syndikalismus und der antimilitaristischen Bewegung verbunden.

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