Direkte Demokratie im Griechenland klassischer Zeit


Helge Doehring
Griechenland Direkte Demokratie Geschichte

Vom unheilvollen christlichen Einfluß unberührt liegt sie vor uns: Die schöpferische Kraft des antiken Griechenlandes zu klassischer Zeit; die Freigeistigkeit besonders in den Wissenschaften, in den Künsten, der Lebenskultur und in der Philosophie. Offene Gedankenstrukturen, jenseits auch von doktrinären, autoritären und metaphysischen Konstrukten der späteren Platon und Aristoteles.

Das klassische Athen um 450 v. Chr. ist Ideengeber für freiheitlich-emanzipatorische Bestrebungen vieler Generationen danach. Jahrtausende vor Kopernikus und der modernen Astrophysik erkannten antike Denker das heliozentrische Weltbild und sogar ein Atommodell. Euklid, Archimedes und Pythagoras sind heute in der Mathematik so gültig, wie Epikurs nüchterne Definition vom Tod. Der Fabeldichter Äsop karikierte das Phänomen der „freiwilligen Knechtschaft“ des Menschen 2000 Jahre vor der erhellenden Schrift La Boéties aus dem 16. Jahrhundert. Aristarch (310-230 v. Chr.) hielt die freien Gedanken der Vorsokratiker hoch, bis die klare und offene Geisteshaltung in der Befangenheit von Neoplatonismus und Christentum für Jahrtausende begraben wurde.

In der Architektur machte erst die Gotik seit dem 12. Jahrhundert andere Baumodelle als jene aus der Antike überregional salonfähig. Das Wenige, was das Römische Reich an kulturellen Ausdrücken zur Schau zu stellen versuchte, verdankte sie dem maßgeblichen Einfluß der griechischen Klassik. Geistesgrößen der „Weimarer Klassik“ um das Jahr 1800 nahmen starken Bezug auf sie, Griechenland war ihre zweite Heimat. Auch Rudolf Rocker widmete ihr viel ehrenden Platz in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk „Die Entscheidung des Abendlandes“. Das überlebensgroße Denkmal für den Anarchisten Domela Nieuwenhuis in Amsterdam steht auf einen Sockel, den der antike Lichtbringer Prometheus ziert.

Wer antike Literatur vorzieht, hat beispielsweise mit Aristophanes oder Sappho die Möglichkeit, sich dieser Zeit kritisch und antimilitaristisch anzunähern. Ähnlich möchte ich es hier meiner allgemeinen Hochachtung zum Trotz auch in der Erläuterung des politischen Systems des klassischen Athen halten.

„Die einen sagen: eine Truppe von Reitern, andere wieder: Fußvolk oder eine Flotte von Schiffen sei auf der dunklen Erde das Schönste – ich aber sage: das, was ein jeder lieb hat.“ (Sappho)

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ (Protagoras)

Der Weg in die Demokratie

Die politische und ökonomische Entwicklung Griechenlands im sechsten Jahrhundert v. Chr. ging von einer Adelsherrschaft in eine Form über, die Tyrannis genannt wird. Deren Träger, die Tyrannen, betrieben moderne Politik und setzten sich vom Adel ab. Sie waren im Wesentlichen verantwortlich für den wirtschaftlichen Aufschwung, schufen Handel und Flotte. Doch wurden sie von der absoluten Mehrzahl der Einwohner Griechenlands als Diktatoren empfunden und in Athen im Jahre 510 gestürzt.

Ähnlich wie bei den Soldatenräten des 20. Jahrhunderts fanden Heeresversammlungen von Soldaten und „Matrosen“ statt. Diese begannen damit, sich mehr und mehr in die politischen Angelegenheiten einzumischen, mit dem Auftrieb, dass sie aus den Perserkriegen 490/80 als Helden gefeiert in die Heimat zurückkehrten. Sie waren die Träger der militärischen Macht, die unterstützt von einer starken Handelsflotte Wohlstand und Zuversicht gedeihen ließen. Aus diesen Heeresversammlungen entstanden die Volksversammlungen, welche zusammen mit den Reformen des Kleisthenes (ca. 570-507 v. Chr.) das zukünftige direktdemokratische Fundament stellen sollten.

Exklusivität

Dieses Fundament bestand in einer bestimmten Geisteshaltung, auf deren Grundlage sich bestimmte Institutionen herausbildeten. Die griechische Gesellschaft des 5. Jahrhunderts lebte vom Handel, welcher sich auf einen umfangreichen Seeverkehr, sowie auf eine ausdifferenzierte Wirtschaftsstruktur stützen konnte. Athen war ein Zentrum von Handel, Handwerk und Verkehr. Das hatte es vornehmlich zwei Personengruppen zu verdanken, den Sklav:innen und den Metöken, wie die ausländischen Handel- und Handwerktreibenden genannt wurden. Hinzu kamen die Frauen, die im privaten Bereich tätig waren. Da diese Gruppen aber über keine militärische Macht verfügten, waren sie von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Zugelassen waren nur „waffentragende Männer“. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung waren das etwa 10 %.

Damit könnten wir die Geschichte als oligarchische Herrschaftsform abhaken, wenn es da nicht noch sehr interessante Aspekte gäbe, die ich des weiteren umreißen möchte. Für direktdemokratische Prozesse war eine sehr umfangreiche und zeitaufwendige Beteiligung dieser 10 % erforderlich. Dies beinhaltete die Entscheidungsfindungsprozesse, die Durchführung, die Beschlußüberwachung und die Rechtsprechung in allen öffentlichen Angelegenheiten. Das setzte die Freistellung von produktiver Arbeit voraus. Eben diese wurde von den Personengruppen geleistet, die ausgeschlossen waren, den Frauen und den Sklav:innen. Sie machten die Arbeit, die heute überwiegend von Maschinen und Computern bewerkstelligt wird. Auch sollte betont werden, dass Athen zu dieser Zeit im Mittelmeerraum eine imperiale Handelsmacht darstellte.

Die Volksversammlung

Die oberste politische Instanz war die Volksversammlung, welche in Athen durchschnittlich von etwa 6.000 Menschen besucht wurde, ca. 40 mal im Jahr tagte und Entschlüsse für alle Fragen des gesellschaftlichen Lebens traf, z.B. über Krieg/Frieden, Landwirtschaft, Handel, Vertreibungen von möglichen Tyrannen. Die Anträge mußten vorher beim geschäftsführenden Ausschuß des Rates vorgelegt werden, wo entschieden wurde, ob er für eine Abstimmung infrage kommt. War dies der Fall, so wurde der Antrag drei Tage vor der Volksversammlung öffentlich angeschlagen, um darüber inhaltlich zu beraten.

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Versammlung war neben der Selbstdisziplin ein bestimmter kultureller Reifegrad. Dieser war dadurch gegeben, dass die Menschen ihre eigenen Herren waren, und keine anderen Herrscher über sich hatten. Das Gefühl der gleichberechtigten Teilhabe ist ausschlaggebend für die schöpferischen Kräfte und die Kreativität, die nur selbstbewußte Menschen als kollektiver Souverän hervorzubringen imstande sind. Hier kombinierte Redegabe mit kritischer Reflexion. Dieser kulturelle Ausdruck zeigte sich darüber hinaus auch in Wissenschaft und Kunst.

Das erkämpfte Recht auf freie Rede war entscheidend und ein Grundcharakteristikum der griechischen Gesellschaft jener Zeit. Beim Dichter Aristophanes beispielsweise finden wir grundlegende, komödiantisch formulierte Kritik an der Vorherrschaft der Männer, deren Entscheidungen zugunsten der Kriege von Frauen u.a. durch Sexentzug, Gebärstreik und eigene Frauenvolksversammlungen begegnet werden könne („Lysistrata“ u.a.).

Die Männervolksversammlungen stellten geistige Wettkämpfe dar und gaben Einblicke in die religiösen und künstlerischen Vorgänge. Grundlage hierfür war der hohe Alphabetisierungsgrad und eine ausgeprägte Volksbildung. Schulwesen gab es auch für Mädchen. Abgestimmt wurde ansonsten generell mit Handzeichen und Erkennungsmarken, offen und geheim. Als gesetzgebende Versammlung fungierte die Nomothesie als Teil der Volksversammlung. Kontinuität und weitere Kontrolle wurden dadurch erreicht, dass die Beschlüsse öffentlich ausgestellt und archiviert wurden. Die Anwesenden erhielten für die Teilnahme einen finanziellen Ausgleich.

Andere Institutionen

Wer aber berief die Volksversammlung ein, wer leitete diese und wer entschied darüber, was zur Abstimmung gestellt wurde? Darüber befand die zweitwichtigste Institution der athenischen Demokratie, der Rat. Um neben der kulturellen auch die politische/geographische Einheit Attikas herzustellen, schuf er das Phylensystem. Eine Phyle bestand aus drei Einheiten (Trittys = Drittel) eines Demos (Volksstamm), je aus den Bereichen Stadt, Land und Küste. So blieb einerseits der gewachsene Personenverband gewahrt, und die verschiedenen geographischen/wirtschaftlichen Gegebenheiten wurden miteinander verzahnt.

Von den insgesamt 10 Phylen, die über Attika verteilt waren, stellte jede per Losverfahren 50 Ratsmänner für die Institution, die auch der „Rat der fünfhundert“ genannt wurde. Dieser Rat setzte sich also gemäß der Trittys etwa gleichermaßen aus Bauern, Städtern (Handwerker, Handeltreibende u.a.) und Küstenbewohnern (Seeleute, Händler u.a.) zusammen, und zudem waren dort alle (Familien-) stämme vertreten. Um besser arbeitsfähig zu sein, bildete sich aus diesen 500 ein geschäftsführender Ausschuß von 50 Ratsmännern, welcher außenpolitisch tätig war (auch Verhandlungen mit anderen Staaten führte), die Beamten beaufsichtigte, die Finanzprüfung inne hatte und die Volksversammlungen einberief, diese leitete und die Anträge zur Abstimmung auswählte.

Da die Ratsmänner aus allen Gegenden ausgelost wurden und der geschäftsführende Ausschuß rotierte, wurde jeder Korruption vorgebeugt. Der Vorsitzende des geschäftsführenden Ausschusses wurde jeden Tag (!) gewechselt, um Amtsmissbrauch vorzubeugen. Der Rat wechselte jährlich, die Ratsversammlungen waren öffentlich, die Ratsmänner bekamen eine Aufwandsentschädigung.

Wer aber waren die Beamten? Diese hatten exekutive Funktionen, z.B. in religiösen Angelegenheiten oder bei der Kontrolle der Marktgesetze. Schließlich gab es die Militärführer (Strategen), die einer strengen Rechenschaftspflicht unterlagen und für eigene Vergehen von der Volksversammlung zum Tode verurteilt werden konnten.

Als einzige Beamtengruppierung konnten die Strategen auf Dauer wiedergewählt werden. Für die restlichen galt eine Amtszeit von einem Jahr. Sie waren der Volksversammlung untergeordnet, wurden vom Rat überwacht, waren innenpolitisch schwach ausgebildet und wurden von der Öffentlichkeit stark kontrolliert. Damit sollte möglichen neuen Tyrannen aus einer Militärkaste vorgebeugt werden. Wer verdächtig war, eine Tyrannis zu errichten, konnte per Volksabstimmung verbannt oder auch hingerichtet werden.

Da aber die Volksversammlung nicht in allen Angelegenheiten richtete, stand ihr eine vierte Institution zur Seite, das Volksgericht. Dieses setzte sich wie der Rat aus gelosten, mit zeitlich begrenzter Amtszeit versehenen und aufwandsentschädigten Geschworenen zusammen. Auf Attika verteilt befanden sich etwa 10 bis 15 Volksgerichtshöfe mit jeweils 201, 401 oder auch 501 Geschworenen, die jeden Tag über strafrechtliche, wie zivilrechtliche Dinge abstimmten, wie z.B. Ehebruch, Diebstahl oder Erbschaftsangelegenheiten. Auch wuchsen sie zu Überwachungsinstanzen für die Beamten heran.

Bleibende Werte

Diese Demokratie kann nach Platon als eine regierungslose (anarchos) bezeichnet werden, oder mit Jochen Bleicken ausgedrückt: „Die Idee der Demokratie verlangt, daß der Bürger sich überhaupt nicht regieren läßt.“ Die den Freiheitswillen kennzeichnenden Elemente sind zusammengefaßt die freie Rede, das Losverfahren, die Rotation, die begrenzte Amtszeit, die Rechenschaftspflicht, die starke Kontrolle und ggf. Bestrafung der Beamten (Anzeigen von Bürgern gegen Beamte wurden ernstgenommen, doch mußte der Bürger bei Nichtverurteilung Strafe zahlen), die Offenheit der Volksversammlung, des Rates und des Gerichtswesens, das Verfahren der öffentlichen Anschläge und die Zugänglichkeit sowie Archivierung von Beschlüssen.

Dazu kommen ein hohes Bildungsniveau und Selbstbestimmung, abgesichert über Handel und Militär, welches aufgrund dieses direktdemokratischen Systems die Bezeichnung „Miliz“ verdient. Dies war der Boden, auf dem Wissenschaften, Künste und Philosophie (Vorsokratiker) hervorragend gedeihen konnten, wie generell in der Geschichte zu beobachten ist, dass es umgekehrt unter einer starken Zentralmacht zur Verkümmerung kultureller Werte kam, wie im antiken Rom oder unter Stalin.

Die kulturellen Blütezeiten in Deutschland lagen nicht zufällig in den Machtvakuen der Weimarer Klassik und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. So nimmt es nicht weiter Wunder, wenn die griechische Klassik in der Renaissance über Goethe/Schiller bis heute unter Kosmopoliten hochgeschätzt wird. Wir sind gut damit beraten, bei aller Kritik an der Exklusivität dieser „ältesten Demokratie der Welt“ die Elemente im Kopf zu haben, welche es vermochten, über 150 Jahre lang bis etwa Mitte des 4. Jahrhunderts Souveränität und Selbstbestimmung der privilegierten Griechen in Friedens- und Kriegsperioden sicherzustellen.

Helge Döhring

Überarbeitet aus: „Direkte Aktion“, Nr. 168

Literaturempfehlungen

  • Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie, Paderborn 1995
  • Rudolf Rocker: Die Entscheidung des Abendlandes, Hamburg 1949

Helge Döhring

Helge Döhring, geb. 1972, Historiker und Literaturwissenschaftler, lebt in Bremen. Buchveröffentlichungen zur syndikalistischen und anarchistischen Arbeiterbewegung: „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918“ (2013), zum „Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945“ (2013) und „Organisierter Anarchismus in Deutschland von 1918 bis 1933“ (drei Bände, 2018-2020), sowie zur „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ (2011), zu den „Schwarzen Scharen“ (2011); kommentierte Bibliographie zur syndikalistischen Presse in Deutschland (2010). Regionalstudien zum Syndikalismus für Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Ostpreußen, Schlesien und Schleswig-Holstein. Verfasser des Buches „Anarcho-Syndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung“ (2017). Mitarbeiter und Mitbegründer des Instituts für Syndikalismusforschung und Mitherausgeber des Jahrbuchs „Syfo – Forschung&Bewegung“.

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