Wofür steht das Bündnis Sahra Wagenknecht?


Alfred Masur
Aktuelles Parteipolitik

Nach langem internen Streit haben Sahra Wagenknecht und einige Getreue die LINKE verlassen; noch im Januar wollen sie eine eigenen Partei gründen. Aber wofür steht die neue politische Kraft? Um dieser Frage nachzugehen, erscheint es sinnvoll, zunächst einige gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre in Erinnerung zu rufen und sich die historische Situation zu vergegenwärtigen, in der sich Wagenknechts neues Projekt formiert.

20 Jahre politisch-ökonomische Krise

Die Welt ist in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich instabiler geworden. In kurzen Abständen folgten immer neue Krisen auf verschiedenen Ebenen: Die große Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, die Eurokrise, Kriege wie in Syrien und der Ukraine und die damit verbundenen Fluchtbewegungen, die Coronapandemie und die Lockdowns, die immer deutlicher zutage tretende geopolitische Konfrontation zwischen den alten imperialistischen Staaten des Westens auf der einen und China und anderen neuimperialistischen Mächten auf der anderen Seite. Über all dem schwebt drohend die globale Umwelt- und Klimakrise, deren katastrophalen Auswirkungen wir erst zu erahnen beginnen.

Für die breite Masse der Bevölkerung der meisten westlichen Länder bedeutete diese Entwicklung ein Stagnieren oder Sinken der Reallöhne, Sozialabbau, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, stärkere soziale Ungleichheit und generell eine wachsende Unsicherheit der Lebensverhältnisse und Zukunftsaussichten.

20 Jahre Scheitern linker Parteien

Ebenfalls vor etwa 20 Jahren begann ein Aufstieg parlamentarischer linker Parteien, der sich auf das Versprechen stützte, endlich mit der Austeritätspolitik Schluss zu machen und zu sozialstaatlichen Maßnahmen zurückzukehren. Dieser Aufstieg fand vor allem in Europa und Lateinamerika statt. In Lateinamerika standen die Arbeiterpartei in Brasilien mit Lula da Silva und die bolivianische MAS mit Evo Morales im Zentrum. In Deutschland gründeten 2005 enttäuschte Sozialdemokrat:innen und Gewerkschaftler:innen aus Protest gegen die Hartz-Reformen die WASG. Diese vereinigte sich 2007 mit der PDS, die vor allem in Ostdeutschland stark war, zur Linkspartei. In Europa erreichte die neuere parlamentarische Linke ihren Höhepunkt mit dem Aufstieg der Parteien Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, die aus den Krisenprotesten hervorgegangen bzw. durch diese groß geworden waren. Schließlich kamen noch die Kandidaturen der Politstars Bernie Sanders und Jeremy Corbyn in den USA bzw. Großbritannien hinzu.

Am Ende sind diese Versuche alle gescheitert. Während Corbyn und Sanders an der Wahlurne unterlagen, wurde Syriza 2015 an die Regierung gewählt, konnte sich dann aber gegen die Macht von EU, IWF und Weltbank nicht durchsetzen. Sie musste die Spardiktate, deren Zurückweisung sie im Wahlkampf versprochen hatte, schließlich doch akzeptieren. Zu den Problemen, reale Machtverhältnisse zu überwinden, kam auch eine eingeschränkte politische Perspektive, die den vorgegebenen institutionellen Rahmen nicht infrage stellte: So passte sich etwa die deutsche Linkspartei zugunsten der „Regierungsfähigkeit“ an den herrschenden Politikbetrieb an. Wo sie auf Landesebene mitregierte, verhielt sie sich zahm und stellte die neoliberale Politik nicht infrage. Als Folge dieser Linie wurde sie als Protestpartei nicht mehr ernst genommen, viele Wähler:innen aus den unteren sozialen Schichten wendeten sich von ihr ab. Bei den letzten Bundestagswahlen scheiterte sie an der 5-Prozent-Hürde.

Zunehmende Polarisierung

Derweil beschlossen die politischen Eliten in Deutschland und Westeuropa, an alten Gewissheiten festzuhalten. Die neoliberale Politik wird fortgesetzt; außenpolitisch wird das Bündnis mit den USA fester gezogen, auch in den Wissen, dass dies Kosten nach sich ziehen wird. Als Beispiel seien die Sanktionen gegen Russland erwähnt, die zu der hohen Inflation, besonders der Energiepreise, geführt haben und die deutsche Wirtschaft erheblich schwächen, weil viele Rohstoffe teurer geworden und Exportmöglichkeiten weggefallen sind. Ähnliches gilt für den neuen kalten Krieg mit China.

Auf der anderen Seite stehen die, die Unmut gegen diese Entwicklung haben. Dabei wurde, nach dem Niedergang der linken Parteien, der erstarkende Rechtspopulismus zum Zentrum dieses Pols. Das mag auf den ersten Blick überraschen, sind doch fast alle rechtspopulistischen Parteien strenge Verfechter der Austeritätspolitik. Ihr Politikversprechen ist fast das Gegenbild des linken Parlamentarismus: statt Verbesserung der Bedingungen durch Ausweitung des Sozialstaats, versprechen sie eine Verbesserung der Situation einerseits durch die Eindämmung der Migration und andererseits durch eine neutralere Außenpolitik, die zu einem erneuten wirtschaftlichen Aufschwung führen soll.

Die Auseinandersetzung zwischen den liberalen Eliten und dem Rechtspopulismus wird dabei vornehmlich als Kulturkampf geführt. Die Neoliberalen haben in den letzten beiden Jahrzehnten Anleihen an das Vokabular und die Ideologien linker sozialer Bewegungen gemacht. Sie propagieren Multikulturalismus, Feminismus und Diversität und versuchen damit, ihrer Politik zugunsten der Reichen einen progressiven Anstrich zu geben. AfD und Konsorten arbeiten sich wiederum stark an diesem Anstrich ab und wettern gegen Gendersternchen und Regenbogenflaggen. Damit verdecken beide Seiten ihre grundlegende Einigkeit in Bezug auf die neoliberale Wirtschaftsdoktrin. Dieser Kulturkampf hat zu einer starken Polarisierung und moralischen Aufladung öffentlicher Debatten geführt, durch die eine Kritik an der einen Seite fast schon automatisch als Zustimmung zur anderen aufgefasst wird und es schwer ist, grundsätzlich andere politische Perspektiven überhaupt ins Spiel zu bringen.

Bündnis Sahra Wagenknecht – Das Gründungsmanifest

In diese Situation starker gesellschaftlicher Unsicherheit, trister Realpolitik und dem Scheitern der alten parlamentarischen Linken fällt nun Wagenknechts Ankündigung eines neuen politischen Anlaufs. Ein Parteiprogramm gibt es zwar noch nicht, der vorbereitende Verein „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) hat aber schon ein Gründungsmanifest (1) veröffentlicht, welches die Leitlinien der künftigen Partei anhand von vier Schlagworten umreißt: „wirtschaftliche Vernunft“, „soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“. Das Manifest kann als Versuch gelesen werden, auf die oben beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen eine Antwort zu geben.

Unter dem Stichpunkt „wirtschaftliche Vernunft“ wird nach einem Ausweg aus der ökonomischen Krise gesucht. Um den drohenden Niedergang der deutschen Industrie aufzuhalten, strebt das Bündnis zum einen die Normalisierung der Handelsbeziehungen zu Russland an, um wieder an billiges Erdgas zu kommen. Zum anderen wird eine „seriöse Umwelt- und Klimapolitik“ gefordert: Statt mit „blinde[m] Aktionismus und undurchdachte[n] Maßnahmen“ die Strompreise in die Höhe zu treiben und Industrie und Bevölkerung das Leben schwer zu machen, müsse man zur Bekämpfung des Klimawandels auf die „Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien“ setzen. Ergänzt werden soll dies durch ein umfangreiches staatliches Investitionsprogramm in Verwaltung, Bildung und Infrastruktur.

Der Programmpunkt „Frieden“ behandelt den geopolitischen und militärischen Aspekt der aktuellen Krisendynamik. Die bisherige Bündnistreue der deutschen Eliten mit den USA wird offen infrage gestellt: „Unser Land verdient eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt und von der Einsicht getragen ist, dass US-amerikanische Interessen sich von unseren Interessen teilweise erheblich unterscheiden.“ Ziel sei „ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt“. Die NATO wird als „Machtinstrument für geopolitische Ziele“ abgelehnt. Stattdessen müsse man ein „defensiv ausgerichtetes Verteidigungsbündnis“ anstreben, sich zur Abrüstung verpflichten und den Einsatz der Bundeswehr auf die Landesverteidigung beschränken.

Unter dem Slogan „soziale Gerechtigkeit“ werden die uneingelösten Versprechen des linken Parlamentarismus der letzten zwei Jahrzehnte wieder aufgegriffen: die Tarifbindung soll gestärkt, der Sozialstaat wieder ausgebaut, Privatisierungen gestoppt, Reiche stärker besteuert werden – kurz: die neoliberale Politik mindestens seit den Hartz-Reformen soll zurückgenommen werden.

Mit dem Programmpunkt „Freiheit“ schließlich möchte das BSW einen Ausweg aus der unproduktiven Polarisierung zwischen Liberalismus und Rechtspopulismus anbieten. Die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung und der kontroversen politischen Debatte sei nicht nur durch rechtsextreme und rassistische Ideologien, sondern auch durch „Cancel Culture“ und „Konformitätsdruck“ des linksliberalen Mainstreams in Gefahr. Das Bündnis spricht sich gegen eine dadurch verursachte „zunehmende Verengung des Meinungsspektrums“ aus und möchte „die demokratische Willensbildung wiederbeleben“, indem es dem verbreitetem Unmut gegen die herrschende Politik eine Stimme gibt, sich dabei aber klar von den Rechten abgrenzt.

In diesem Zusammenhang möchte Wagenknechts Verein auch eine offene Debatte zum Thema Migration führen. Ziel müsse es sein, die Einwanderung auf ein Maß zu beschränken, das die öffentliche Infrastruktur nicht überfordert und die Konkurrenz um Jobs und Wohnungen, insbesondere für den ärmeren Teil der Bevölkerung, nicht über Gebühr verschärft.

Rettung des deutschen Geschäftsmodells?

Schauen wir uns nun der Reihe nach an, was von den einzelnen Programmpunkten zu halten ist. Die propagierte „vernünftige“ Wirtschaftspolitik hat nichts Antikapitalistisches oder Revolutionäres an sich – sie möchte den status quo bewahren und Deutschland als konkurrenzfähigen Industriestandort erhalten. Passenderweise bezeichnet Wagenknecht selbst ihre politische Position zuweilen auch als „linkskonservativ“. Nicht nur im Gründungsmanifest des BSW, auch in Wagenknechts neueren Schriften kommt eine über den kapitalistischen und nationalstaatlichen Rahmen hinausgehende gesellschaftliche Perspektive nicht mehr vor. Stattdessen bezieht sie sich unter anderem positiv auf die „ordoliberale“ Wirtschaftstheorie der frühen Bundesrepublik. (2) Es geht nicht um Klassenkampf, sondern um ein Bündnis der Lohnabhängigen mit der eigenen Bourgeoisie. Aber wird sich letztere auf das Bündnisangebot überhaupt einlassen?

Die Forderung nach einem Ende der Russland-Sanktionen trifft zweifellos auf ein Bedürfnis der deutschen Wirtschaft, die durch den plötzlichen Anstieg der Energiekosten schwer getroffen wurde. „Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören?“, warnte der BASF-Chef Martin Brudermüller bereits im März 2022 vor den Folgen eines Gasboykotts. (3) Ganz so dramatisch kam es zwar doch nicht und die Gaspreise sind mittlerweile wieder deutlich gesunken; sie liegen aber immer noch um ein Vielfaches höher als z.B. in den USA und das wird nach Ansicht von Expert:innen auch in den nächsten Jahren so bleiben. (4)

Das Ende der russischen Gaslieferungen ist aber nur ein Teil des Problems. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Joseph Halevi hängen die Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Industrie und auch ihrer mitteleuropäischen Zulieferer vor allem von einer verstärkten eurasischen Integration ab: Export von Maschinen und anderen Investitionsgütern nach China, nicht mehr nur per Schiff, sondern in immer stärken Maße auch per Eisenbahn, darüber hinaus wirtschaftliche Erschließung des riesigen dazwischen liegenden Räume Russlands und Zentralasiens entlang der Transitrouten – letztlich also ein Anknüpfen Zentraleuropas an das von China vorangetriebene Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße. Diese ganze Entwicklungsrichtung wurde nun aber durch den westlichen Wirtschaftskrieg seit dem Frühjahr 2022 abrupt gestoppt. Und mit dem Stottern des deutschen Exportmotors werden auch für das von ihm abhängige übrige Europa die Aussichten noch düsterer als sie ohnehin schon sind. (5)

Während also die aktuelle westliche Geopolitik der EU offensichtlich schadet, nutzt sie den USA: Diese haben nicht nur einen neuen Absatzmarkt für ihr Fracking-Gas gewonnen, sondern auch Europa politisch enger an sich gebunden und einer stärkeren Kooperation ihrer europäischen Juniorpartner mit Russland und China einen Riegel vorgeschoben. Das Wagenknecht-Bündnis hat also nicht unrecht, wenn es darauf hinweist, dass „US-amerikanische Interessen sich von unseren Interessen teilweise erheblich unterscheiden“.

Erstaunlicherweise werden diese deutschen Wirtschaftsinteressen aber im Moment kaum politisch vertreten: Es gibt innerhalb der etablierten politischen Klasse Deutschlands keine Partei oder Fraktion, die ein Ende der Russlandsanktionen fordert – ja noch nicht einmal eine ernsthafte politische Debatte über das Für und Wider dieses Handelskriegs. Lediglich aus der Schmuddelecke der AfD sind kritische Stimmen zu hören. Zumindest ist das die offizielle Doktrin. Es ist durchaus denkbar, dass auch im politischen Establishment einige hinter vorgehaltener Hand über alternative außenpolitische Strategien diskutieren.

Jedenfalls würde Wagenknechts Partei hier eine Lücke füllen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass das deutsche Kapital in Zukunft geschlossen das BSW unterstützen wird. Dafür stehen andere Wagenknecht'sche Programmpunkte wie die Anhebung des Mindestlohns, höhere Spitzensteuersätze und generell der Wiederausbau des Sozialstaats ihren Profitinteressen zu sehr entgegen. Jedoch könnten die außenpolitischen Forderungen des BSW als Türöffner willkommen sein, um solche Positionen auch im bürgerlichen Mainstream wieder diskutierbar zu machen.

Friedlicher Imperialismus?

Nach dem Willen des BSW sollen sich Deutschland und Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch von der Unterordnung unter die US-amerikanische Hegemonie befreien und künftig stärker als eigenständiger Akteur auftreten. Auf den ersten Blick erscheint ein solcher Kurswechsel ebenso unrealistisch wie ein Ende des Wirtschaftskriegs. Die europäischen und insbesondere die deutschen Eliten stehen seit dem Ausbruch des ukrainischen Krieges scheinbar unverbrüchlicher denn je für transatlantische Bündnistreue. Doch auch hier wird unter der Oberfläche möglicherweise längst über andere Optionen diskutiert. So hat beispielsweise der französische Präsident Macron im August 2019, als man solche Gedanken noch offener äußern konnte, in einer Rede auf der Botschafterkonferenz seines Landes das strategische Ziel einer Annäherung an Russland und einer gegenüber den USA eigenständigen europäischen Außenpolitik formuliert. (6) Auch in Deutschlands ist mit der politische Kaltstellung Gerhard Schröders und seinen Russland-Connections eventuell noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Während also eine strategische Neuausrichtung der deutschen und europäischen Außenpolitik mittelfristig nicht ausgeschlossen werden kann, erscheinen die daran von Wagenknecht und Co geknüpften Hoffnungen auf Abrüstung und Frieden sehr naiv. Um in der weltweiten Konkurrenz bestehen zu können, muss ein Bündnis kapitalistischer Staaten die Interessen seiner Konzerne auch gegenüber dem Ausland durchsetzen können. Das Herrschaftspersonal mag dabei in vielen Fällen auf „friedliche“ Mittel wie diplomatische Überredung und wirtschaftliche Erpressung zurückgreifen, grundsätzlich auf das Militär als „Machtinstrument für geopolitische Ziele“ verzichten, wie es Wagenknechts Bündnis fordert, kann es sicher nicht. Einen friedlichen europäischen Imperialismus wird es nicht geben. Im Gegenteil: Unter der Vorherrschaft der USA konnte sich Westeuropa in den letzten Jahrzehnten eine gewisse militärische Zurückhaltung erlauben, weil die US-Streitkräfte eine Weltordnung aufrechterhielten, die auch die Profite der europäischen Unternehmen sicherte. Wenn die europäischen Länder künftig eigenständiger auftreten wollen, müssen sie sich gezwungenermaßen auch stärker militärisch engagieren. Wenn Wagenknechts neue Partei, wie sie in ihrem Manifest schreibt, verhindern will, dass „Europa zwischen den USA und dem sich immer selbstbewusster formierenden neuen Machtblock um China und Russland zerrieben wird“, so müsste sie konsequenterweise nicht weniger, sondern mehr Rüstung fordern.

Einen grundsätzlichen Ausweg aus den militärischen Eskalationen unserer Zeit kann keine alternative Bündnispolitik imperialistischer Staaten, sondern nur eine breite, internationale antimilitaristische Bewegung von unten weisen.

Wiedergeburt des Sozialstaats?

Mit welchen Mitteln möchte das BSW die Wiederbelebung des Sozialstaats erreichen – nachdem so viele Anläufe des linken Parlamentarismus der jüngeren Vergangenheit mit diesem Vorhaben gescheitert sind? Im ihrem knappen Gründungsmanifest äußert sich das Bündnis dazu nicht; Hinweise gibt es jedoch in Wagenknechts Buch Die Selbstgerechten von 2021. Dort beschreibt sie, dass sich linke Parteien vieler Länder in den letzten Jahrzehnten sowohl in Bezug auf ihre Funktionär:innen, als auch hinsichtlich ihrer Wähler:innenschaft von klassischen Arbeiter:innenparteien in Parteien der neuen akademischen Mittelschichten gewandelt hätten. Daher würden sie auch immer stärker die Interessen ihrer neuen, besserverdienenden Klientel vertreten und nurmehr pro forma „soziale Gerechtigkeit“ fordern, ohne sich ernsthaft für entsprechende Maßnahmen einzusetzen. Die Lösung liege folglich laut Wagenknecht darin, dass die linken Parteien sich wieder auf ihre eigentliche Zielgruppe fokussieren und sich auf eine Politik zugunsten der sozial Benachteiligten zurückbesinnen müssten – dann könnten sie auch wieder auf bessere Wahlergebnisse hoffen. (7)

Wagenknechts Beschreibung des soziologischen Wandels linker Parteien trifft auf die SPD, die deutsche Linkspartei und sicherlich auch auf einige sozialdemokratische Parteien anderer Länder zu. Sie ist zumindest Teil der Erklärung, warum diese Parteien sich nicht mehr energisch für eine Abkehr vom Neoliberalismus einsetzen, bzw. ihn sogar selbst aktiv betreiben. Aber Leute wie Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn hatten durchaus eine solide Basis in der Arbeiter:innenschaft, Tsipras in Griechenland und Lula in Brasilien wurden von breiten Bevölkerungsschichten an die Regierung gewählt. Trotzdem hatte keiner von ihnen Erfolg. Wagenknechts These taugt daher nicht, um das Scheitern des neueren Linksreformismus insgesamt zu erklären.

Mir scheint vielmehr eine andere Erklärung naheliegend: Der linke Reformismus scheiterte daran, dass er auf den parlamentarischen Weg und auf Klassenbündnisse mit der Bourgeoisie setzte, statt auf eine selbstständige und klassenkämpferische Mobilisierung der Lohnabhängigen, welche durch Streiks, Besetzungen oder Blockaden die Besitzenden dort trifft, wo es ihnen weh tut – bei ihren Profiten. Vor allem in Südeuropa hat es im Zuge der Krisenproteste durchaus Massenbewegungen gegeben, die solche Aktionsformen praktizierten und in denen auch Forderungen nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft laut wurden. Hier trugen aber gerade Parteien wie Syriza und Podemos viel dazu bei, die Massen zu demobilisieren, indem sie die Hoffnung auf die Wahlurnen lenkten und vormals unabhängige Basisaktivist:innen in ihre Parteistrukturen integrierten.

Auch das BSW scheint sich auf Parlamentspolitik als einzige Perspektive der gesellschaftlichen Veränderung festgelegt zu haben. Es fällt auf, dass sowohl in ihrem Manifest, als auch in Wagenknechts neuem Buch die Massen eigentlich nur in der Rolle von passiven Empfänger:innen staatlicher Wohltaten vorkommen – und nicht als Menschen, die in der Lage sind, sich zu organisieren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und für ihre Interessen zu kämpfen. Allenfalls der Gang ins Wahllokal wird uns als eigenständige politische Aktion zugetraut. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Wagenknechts neue Partei bei der Wiederherstellung des Sozialstaats erfolgreicher sein wird als vorhergehende Versuche des linken Parlamentarismus.

Grüner Kapitalismus?

Wie sehr die Perspektiven gesellschaftlicher Veränderung für das BSW durch den Rahmen von staatlicher Politik und Kapitalismus beschränkt sind, zeigt sich auch auf dem Gebiet der Umweltpolitik. Zwar hat das Bündnis Recht, wenn es sich dagegen wendet, dass die Kosten für die „Energiewende“ durch höhere Strom- und Spritpreise vor allem den Arbeitnehmer:innen aufgebürdet werden. Sahra Wagenknecht ist auch zuzustimmen, wenn sie eine Klimadebatte, die vor allem individuellen Konsumverzicht predigt, als heuchlerischen Elitendiskurs kritisiert und darauf hinweist, dass solche Diskurse viele Menschen gegen Klimapolitik überhaupt aufbringen. (8)

Stattdessen propagiert das BSW die „Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien“ als Ausweg aus der Klimakrise. Auch daran ist soviel richtig, dass der bestehende Produktionsapparat sehr grundlegend transformiert werden muss, damit wir den Planeten nicht weiter ruinieren. Um diese Mammutaufgabe zu bewerkstelligen, sind neue technologische Ideen auf verschiedensten Gebieten notwendig. Vor allem aber wäre eine andere soziale Organisation der Produktions- und Lebensverhältnisse notwendig: Der Kapitalismus mit seinem Profitprinzip und den damit verbundenen Zwängen zur Produktionssteigerung, zur ständigen Schaffung neuer Märkte für neue Produkte, zur Kostenminimierung zulasten von Natur und menschlichen Arbeitskräften usw. steht grundsätzlich in Widerspruch zu einem schonenden Umgang mit der Natur. Auch neue Technologien werden daran höchstens graduell etwas ändern, da sie sich unter den gegebenen Verhältnissen nur dann durchsetzen werden, wenn sie mit den Profit- und Machtinteressen der herrschenden Eliten in Einklang stehen.

Wagenknecht und Co wollen jedoch grüne Innovationen unter kapitalistischen Bedingungen verwirklichen. Die private Unternehmerschaft, insbesondere die „hidden champions“ des deutschen Mittelstands, werden als Verbündete beim Kampf gegen die Naturzerstörung begrüßt. Letztlich unterscheidet sich das umweltpolitische Programm des BSW gar nicht so sehr von dem der verhassten linksliberalen Eliten: hier wie da werden technologische Scheinlösungen für soziale Probleme propagiert und verbissen nach der Quadratur des Kreises einer „Harmonie zwischen Kapitalmärkten und Natur“ (9) gesucht.

Auch die Hoffnung auf den Staat, der nach der Vorstellung von Wagenknecht und anderen Sozialdemokrat:innen durch entsprechende Gesetze ein umweltverträglicheres Wirtschaften befördern soll, ist trügerisch: Unter den Bedingungen des Weltmarktmarkts scheuen die Staaten davor zurück, durch konsequente Umweltauflagen die Standortbedingungen der einheimischen Industrie gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu verschlechtern. Dies wird eindrucksvoll durch die diversen UN-Gipfel gezeigt, die es nie geschafft haben, sich auf mehr als unverbindliche Absichtserklärungen zu einigen.

Schutz der einheimischen Arbeiter:innen?

Bei der Frage der Migration grenzt sich Wagenknecht von linksliberalen „Lifestyle-Linken“ ab, die es in ihrer behüteten Mittelschichtsumgebung leicht hätten, „offene Grenzen“ zu fordern, weil sie von den mit verstärkter Migration einhergehenden sozialen Problemen im eigenen Alltag nicht betroffen seien. Im Interesse der einheimischen Arbeiter:innen fordert das BSW dagegen eine Begrenzung der Einwanderung.

Das Bündnis hat recht, dass der Zuzug von Migrant:innen Probleme wie Lohndruck in ohnehin schlecht bezahlten Berufen, steigende Mieten und eine Überlastung der Infrastruktur von Schulen bis zu den Schwimmbädern verschärfen kann und dass diese Entwicklungen vor allem Gegenden betreffen, die ohnehin schon soziale Brennpunkte sind. Es ist aber falsch, darauf mit der Forderung nach einer Schließung der Grenzen zu reagieren! Besser wäre es, in Stadtteilen und Betrieben solidarische Strukturen aufzubauen, in denen sich einheimische und neu zugewanderte Lohnabhängige gemeinsam für bezahlbare Mieten, höhere Löhne und bessere öffentliche Einrichtungen stark machen. Sicher wird die Herausbildung solcher Aktionsbündnisse in der Praxis häufig durch vielfältige Hindernisse wie Sprachbarrieren, kulturelle Vorbehalte und reale Interessengegensätze erschwert. Dass das BSW aber eine solche Perspektive überhaupt nicht formuliert, zeigt ein weiteres Mal die Beschränktheit ihrer auf nationalstaatliches Handeln fixierten Herangehensweise.

Indem das BSW die Verringerung der Einwanderung als Weg zur Lösung sozialer Probleme propagiert, trägt es dazu bei, die Spaltung der Arbeiter:innenklasse entlang ethnischer Linien zu zementieren. Dies erschwert den Aufbau einer möglichst breiten Bewegung gegen die Angriffe von Kapital und Staat und schadet so letztlich auch den einheimischen Lohnabhängigen, als deren Anwalt sich das BSW darstellt.

Dazu kommt, dass Wagenknecht in ihren öffentlichen Statements zum Thema Migration häufig einen populistischen, nationalistischen Ton anschlägt, der vorhandene Ressentiments anspricht und verstärkt. So hat sie zwar recht, wenn sie z.B. im Interview mit der WELT vor der Entstehung „islamistischer Milieus“ warnt, welche ein „Kalifat“ errichten wollen – aber das Problem an solchen Milieus ist nicht, dass sie „nicht in unser Land passen“, wie Wagenknecht meint, sondern, dass sie zutiefst patriarchal und freiheitsfeindlich und daher überall auf der Welt abzulehnen sind. (10)

Wagenknecht betont häufig, dass die Forderung nach „offenen Grenzen“ aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles zwischen den verschiedenen Regionen der Welt innerhalb der bestehenden Verhältnisse nicht realisierbar ist. Das stimmt – aber das spricht nicht gegen die Forderung, sondern gegen die Verhältnisse! Die Idee einer Welt ohne Grenzen und globaler Bewegungsfreiheit ist ein erstrebenswertes Ziel, das allerdings nur im Zuge einer weltweiten Bewegung gegen den Kapitalismus und Imperialismus verwirklicht werden kann.

Rückkehr zum bürgerlichen Meinungspluralismus?

Das BSW möchte die aktuelle Polarisierung zwischen Liberalismus und Rechtspopulismus überwinden, indem es Kritikpunkte an der herrschenden Politik stark macht, die bisher im offiziellen Mediendiskurs kaum vorkamen und daher populistisch von den Rechten ausgegriffen werden konnten. Sahra Wagenknecht hat sich bereits in der Vergangenheit als Einzelkämpferin in dieser Rolle versucht, indem sie öffentlichkeitswirksam die herrschende Einheitsmeinung etwa zu den Covid-Maßnahmen oder zur Ukraine-Politik kritisierte und damit aussprach, was viele dachten. Eine ganze Partei kann diesbezüglich natürlich noch mehr ausrichten und dies könnte tatsächlich dazu führen, dass die aktuelle Sackgasse öffentlicher Debatten aufbricht und einer offeneren, „multipolaren“ Meinungslandschaft weicht.

Die Folgen einer solchen neuen Unübersichtlichkeit wären zwiespältig: Einerseits könnte sie tatsächlich politische Debatten versachlichen, indem nicht mehr tendenziell jede Kritik an der Regierung als „rechts“ wahrgenommen wird und jede Artikulation feministischer oder ökologischer Anliegen als Unterstützung der Regierung. Dies wäre auch für Kräfte nützlich, die an einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft interessiert sind. Zudem könnte das Auftreten des BSW unter Umständen der Aufstieg der AfD etwas bremsen, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle Wähler:innen dieser Partei ein geschlossen faschistisches Weltbild haben, sondern ihr zumindest teilweise aus Protest und mangels anderer Alternativen ihre Stimme gaben.

Andererseits wirkt das BSW selbst kräftig mit bei der aktuellen Rechtsentwicklung in der Migrationspolitik und hat in dieser Frage eine negative Wirkung auf die öffentliche Debatte. Hier müssen klassenkämpferische Kräfte entschieden widersprechen und, wie oben beschrieben, sich für eine internationalistische Perspektive stark machen.

Fazit

Das BSW steht für eine „souveränistische“ Politik, welche die Handlungsfähigkeit der europäischen Nationalstaaten vergrößern möchte, indem sich diese einerseits von der US-amerikanischen Hegemonie unabhängiger machen und andererseits wieder eine aktivere Rolle in der Wirtschaft spielen. Wie wir gesehen haben, gibt es auch auf der Rechten sowie potentiell in der bürgerlichen Mitte Kräfte, die eine solche Linie befürworten, sodass ein entsprechender Kurswechsel durchaus möglich ist. Jedoch werden sich die daran vom BSW geknüpften friedens- und sozialpolitischen Hoffnungen sicherlich nicht erfüllen! Einige Unterstützer:innen von Wagenknechts Politik dürften sich daher enttäuscht die Augen reiben, wenn sie eines Tages in einem „eigenständigen Europa souveräner Demokratien“ aufwachen, das aber ganz anders aussieht als im Gründungsmanifest des BSW beschrieben.

Die Wahl zwischen „Souveränismus“ und neoliberaler Globalisierung ist eine falsche Alternative. Umso wichtiger, dass wir als anarchistische und sozialistische Kräfte mit unserer eigenen Perspektive des selbstorganisierten Widerstands von unten in die Offensive gehen. Die Wagenknecht-Leute sprechen viel von einer „Repräsentationslücke“ im bestehenden Parteienspektrum, die sie durch ihre neue Partei schließen wollen. Diese Lücke existiert wirklich. Wir wollen sie aber nicht schließen, indem wir Menschen davon überzeugen, dass eine neue Partei endlich tatsächlich ihre Interessen repräsentiert. Im Gegenteil: Wir lehnen den Gedanken der Repräsentation überhaupt ab, weil wir nicht glauben, dass die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch die Wahl von Vertreter:innen in ein bürgerliches Parlament durchgesetzt werden können – auch nicht von Politiker:innen der neuen Linkspartei, wie die Analyse ihres Programms gezeigt hat. Wir wollen deshalb die bestehende „Repräsentationslücke“ ausweiten, indem wir unsere Kritik am Parlamentarismus unter die Massen tragen – aber nicht, damit die Leute als frustrierte Nichtwähler:innen zuhause sitzen, sondern, damit sie sich organisieren und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Anmerkungen

Alfred Masur

Der Autor lebt in Dortmund und arbeitet im Bildungssektor.

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