Mindestlohn und kapitalistische Fraktionskämpfe


Frederik Fuss
Aktuelles Mindestlohn

Zum 01. Januar 2024 soll in Deutschland der gesetzlich festgelegte Mindestlohn von 12€ auf 12,41€ steigen – das ist nicht nur zu wenig zum Leben, sondern gibt auch neuerlich Auskunft über den desaströsen Stand der ArbeiterInnenbewegung in diesem Land.

Zur Entwicklung

Nachdem die rot-grüne Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder den neoliberalen Umbau des Sozialsystems vollzog, war ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden, der 2011 knapp ein Viertel aller ArbeiterInnen umfasste. (1) Das Hartz-System hatte die Lage eines großen Teils der arbeitenden Klasse schier unerträglich gemacht und dem Ausbau des Niedriglohnsektors zugearbeitet – Menschen ohne Arbeit wurden schikaniert und drangsaliert, sie wurden in unwürdige Arbeitsverhältnisse gezwungen, bei denen sie zum Teil keine drei Euro pro Stunde verdienten oder mussten mit den sogenannten 1-Euro-Jobs quasi direkt unbezahlte Zwangsarbeit verrichten, da ihnen sonst die Lebensgrundlage vollständig entrissen wurde. (2) Zwar gab es Proteste gegen den "sozialen Kahlschlag", doch letztlich blieben diese wirkungslos. Eine Besserung der Lage wurde erst erreicht, als der Staat eingriff und eine Kurskorrektur vornahm. Er tat dies im Sinne seiner Rolle als ideeller Gesamtkapitalist (Engels). Das bedeutet, er vertritt den abstrakten Standpunkt des Gesamtkapitals in Deutschland und unternimmt die Schritte, die notwendig sind, um die kapitalistische Funktionsweise aufrecht zu erhalten, ohne Rücksicht auf Vor- und Nachteile einzelner Kapitalfraktionen. So ignorierte er auch die von Unternehmensverbänden heraufbeschwörten Untergangsszenarien zur Einführung eines Mindestlohns und beschloss 2013 die Einführung desselben zu 2014. Was die Gewerkschaften begrüßten – wenn auch nicht in Gänze, da sie noch einiges an Verbesserungspotential sahen – war in Wahrheit nur Ausdruck ihrer eigenen Schwäche. Zwar ging der Einführung des Mindestlohns auch eine lange Kampagne der NGG und anderer DGB Gewerkschaften voraus, doch von einem echten Aufbegehren der arbeitenden Klasse kann keine Rede sein. Vielmehr sah der Staat durch sich ausbreitende Armut seinen Standort gefährdet – 2013 lag die Armutsquote erstmals bei 15,5%. (3) Sie stieg auch – nach einem kurzen Absacken – weiterhin an, doch steuerte der Staat regelhaft dagegen, um eine Massenarmut zumindest soweit zu unterbinden, dass der "soziale Frieden", also die kapitalistische Produktionsweise, nicht gefährdet wurde. So auch 2022 als die Armutsquote bei 16,7% lag und eine außerplanmäßige Erhöhung des Mindestlohns von 10,45€ auf 12€ stattfand.

Die heutige Situation

Nach dem Mindestlohngesetz wird alle zwei Jahre ein Entwurf zur möglichen Erhöhung des Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission vorgelegt, die Bundesregierung kann diesen Vorschlag annehmen oder nicht, sie kann jedoch keinen eigenen Vorschlag machen und umsetzen. Zumindest theoretisch, praktisch kann sie das sehr wohl, wie 2022 unter Beweis gestellt wurde. Doch die Kommission, bestehend aus einer Vorsitzenden und je drei VertreterInnen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften (und zwei nicht stimmberechtigten VertreterInnen der Wissenschaft), hat einen nicht unbedeutenden ideologischen Faktor: sie suggeriert einen gesellschaftlichen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. So zumindest in der Vergangenheit. Diesmal wurde das Ergebnis der Kommission nicht einstimmig, sondern gegen die Gewerkschaften beschlossen. Die SPD kündigte bereits an, dass sie sich für eine Erhöhung auf 14€ einsetzen wolle. FDP-Vorsitzender Kubicki sieht mit dieser Ankündigung bereits den "sozialen Frieden" gefährdet – auch er meint damit das Funktionieren der kapitalistischen Produktionsweise.

Wir befinden uns in einer interessanten Phase des Kapitalismus, wo die verschiedenen Kapitalfraktionen um den weiteren Kurs kämpfen – mehr Neoliberalismus oder mehr Keynesianismus, also weniger oder mehr staatliche Regulierung. Im Staat sind die Fraktionen beide vertreten und fechten den Kampf auch auf dieser Ebene aus. Wie er ausgeht ist offen. Klar ist jedoch, dass bis hierher die arbeitende Klasse im Grunde noch gar nicht auf den Plan getreten ist. Zaghafte Streiks wurden von den Gewerkschaften schnell wieder abgebrochen und in den meisten Fällen Tarifabschlüsse weit unter den ursprünglichen Forderungen abgeschlossen. Revolutionäre Kräfte in und außerhalb von den Gewerkschaften – geschweige denn eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft – sind derzeit zu schwach um einen bedeutenden Einfluss auf diese Entwicklung zu nehmen. Umso wichtiger ist es für diese, sich auf die sich ändernden Kampfbedingungen einzustellen und sich nicht vor den Karren der keynesianischen Kapitalfraktion und SPD spannen zu lassen.

Neoliberaler Angriff

Schafft die arbeitende Klasse es, dem Kapital etwas abzuringen, was dann vom Staat in Recht und Gesetz gegossen wird, kann das höchstens als Teilerfolg gewertet werden. Es ist gut für uns, da es unsere realen Lebensbedingungen verbessert, es hat aber immer das Potential uns zu schwächen, da es die Illusion stärkt, der Staat und seine Gesetze wären für uns da und man sich leicht auf dem Erreichten ausruhen kann. Doch wie wir schon gesehen haben, hat der Staat, in seiner Rolle als Wächter über das Funktionieren der Ausbeutung, selbst ein Interesse daran, dass zumindest der Großteil von uns nicht verhungert und zumindest so zufrieden ist, dass wir nicht aufbegehren. Doch – und das ist das Tückische daran – sobald es wieder opportun ist und keine größere Gefahr für das Kapital darstellt, wird er alles daran setzen, unsere Lebensbedingungen zu Gunsten der Profite wieder zu verschlechtern. Dabei ist es ganz gleich, welche Partei regiert. Erinnern wir uns, dass es die SPD war, die uns Hartz-IV brachte.
Ein kurzer Blick in die Geschichte bestätigt uns dies: So handelte die SPD 1918 im Verbund mit den Kapitalisten den Achtstundentag aus – eine alte Forderung der ArbeiterInnenbewegung – um der aufkommenden Revolution das Wasser abzugraben. Mit Erfolg. Nur fünf Jahre später, als die revolutionäre Bewegung schon deutlich geschwächt war, wurde dieser schon wieder faktisch abgeschafft. Erst die Alliierten führten ihn wieder ein. 1993 – also nach dem Ende der Sowjetunion und der Systemkonkurrenz, wo man es noch nötig hatte die arbeitende Klasse ordentlich zu bestechen – gab es eine erste Flexibilisierung, die noch heute gültig ist. Doch die VertreterInnen des Kapitals wittern in der aktuellen Gemengelage ihre Chance und fordern wieder offen einen Zehnstundentag. (4) Diese Drohungen des Kapitals gilt es unbedingt ernst zu nehmen und Widerstand in der arbeitenden Klasse zu organisieren. Wie es um unsere "Rechte" bestellt ist, wenn wir dies nicht tun, können wir in Österreich sehen, wo 2018 bereits der 12-Stundentag gesetzlich eingeführt wurde.

Aufgabe der AnarchistInnen ist es, dringend das Bewusstsein in der Klasse zu schärfen, dass der Staat uns nichts schenkt, dass eine Erhöhung des Mindestlohns nur so lange kommen wird, wie sie – mindestens einigen Kapitalfraktionen – nützlich erscheint und jedes Zugeständnis an uns, was sich in Gesetzen findet, sofort ausgehebelt wird, sobald es den Gewinn von großen Teilen des Kapitals zu sehr beeinträchtigt. Die Vorzeichen hierfür sind auch bereits sichtbar: die fortschreitende Militarisierung der Gesellschaft macht Menschen gefügig und die imperialistische Konkurrenz, die sich gerade kriegerisch vollzieht, erleichtert es, mit Blick auf den äußeren Feind, innere Einheit zu stiften. Eine Einheit die für die arbeitende Klasse nur eine Verschärfung der Ausbeutung bedeuten kann. Denn wo der Staat von "Werten" und einem "Wir" spricht, ist nichts anderes gemeint, als die Verteidigung der Möglichkeit des nationalen Kapitals auf internationale Ausplünderung – auch wenn die hiesigen ArbeiterInnen dafür zu Tode geschunden werden.

Fußnoten

  • (1) Vgl.: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland 1995 bis 2019. Statista 2022. Online
  • (2) Geändert hat sich daran mit dem neu eingeführten Bürgergeld wenig.
  • (3) Vgl.: Armutsgefährdungsquote in Deutschland von 2005 bis 2022. Statista 2023. Online
  • (4) Vgl.: Tagesschau: „Zwei Stunden mehr Arbeit können nicht schaden.“ Tagesschau 2023. Online

Frederik Fuß

ist Kollektivmitglied im Syndikat-A Verlag und Redakteuer der Tsveyfl - dissensorientierten Zeitschrift.

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