Warum Organisationsdualismus?


Peter Brandt
Debattenbeitrag Anarchismus

Ein Beitrag zur Debatte über anarchistische Organisierung

Kürzlich ist unter dem Titel „Der Gabriel macht mich fertisch“ ein Gastbeitrag auf der Website des Allgemeinen Syndikats Düsseldorf der Freien Arbeiter:innen-Union (FAU) erschienen. Autor des kurzen Artikels ist der Genosse Norbert Hinrichs vom anarcho-syndikalistischen Medienvertrieb „Syndikat A“. Anhand einer Passage aus dem Artikel „Warum Anarchokommunismus?“, den der Genosse Gabriel Kuhn zu einer Broschüre von Anarchismus.de beigesteuert hat, kritisiert Hinrichs die Idee der politischen anarchistischen Organisation und damit den Ansatz des Organisationsdualismus, den er allerdings fälschlicherweise als Plattformismus betitelt. Dem stellt er das Konzept des Anarchosyndikalismus gegenüber, den er als richtigen Weg zur sozialen Befreiung betrachtet.

Damit greift Hinrichs – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – eine Debatte auf, die Anarchist:innen schon seit weit mehr als 100 Jahren führen. Es ist die Debatte darum, welche Art von anarchistischer Organisierung am besten dafür geeignet ist, die soziale Befreiung zu erkämpfen und welche Rolle politische anarchistische Organisationen dabei spielen sollen. Dass diese Frage im deutschsprachigen Raum – und selbstverständlich auch darüber hinaus – weiter aktuell bleibt, spiegelt sich neben Hinrichs Text unter anderem auch in der Gründung der beiden politischen anarchistischen Organisationen „Die Plattform“ als überregionale Föderation und „Perspektive Selbstverwaltung“ als Organisation für Berlin wider. Insbesondere die Gründung der Plattform und die zu diesem Anlass umgesetzte Vortragsreise durch den deutschsprachigen Raum lösten in der anarchistischen Bewegung unserer Region, die sonst nicht gerade von einem Reichtum strategischer Debatten geprägt ist, einiges an Diskussionen aus. Ein Produkt dieser Diskussionen ist sicherlich auch die Broschüre „Plattformismus oder Syndikalismus“, vom Genossen Frederik Fuß, die Hinrichs auch in seinem Text erwähnt. Die Plattform hatte damals auf diesen Beitrag geantwortet und Fuß´ zentraler Aussage widersprochen, Plattformismus und Syndikalismus schlössen sich gegenseitig aus.

In meinen Augen leidet die Debatte bisher darunter, dass der Organisationsdualismus als eigentliches Kernelement der Diskussion gar nicht benannt wird und stattdessen mit dem Plattformismus fälschlicherweise vermengt wird. Das führt auch dazu, dass Hinrichs wie auch schon Fuß die beiden Ansätze an einigen Stellen schlicht falsch darstellt. Ich glaube, dass es für eine fruchtbare Debatte über dieses Thema entscheidend ist, mit Missverständnissen aufzuräumen und Begrifflichkeiten klar zu definieren, um nicht aneinander vorbeizureden. Das bedeutet vor allem auch, den Organisationsdualismus, der selbst vielen Anarchist:innen kein Begriff sein dürfte, in der Bewegung bekannter zu machen. Im Idealfall erfüllt dieser Text also eine dreifache Aufgabe: Er soll zu aller erst so kurz wie möglich die Frage beantworten, was der Organisationsdualismus ist und warum es Anarchist:innen gibt, die sich auf ihn beziehen. Zweitens soll er eine Antwort auf Hinrichs Artikel sein. Und drittens soll dieser Text andere Anarchist:innen dazu anregen, sich mit dem Thema der Organisierung auseinanderzusetzen, die Debatte weiterzuführen und die gewonnenen Erkenntnisse in ihre praktische Arbeit einfließen zu lassen.

Was dieser Text explizit nicht sein kann, ist eine detaillierte Erklärung des Organisationsdualismus und seiner Geschichte. Dazu haben andere Autor:innen wie der Genosse Felipe Corrêa vom brasilianischen Institut für Theorie und Geschichte des Anarchismus mehr Kenntnisse und vor allem auch schon sehr lesenswerte Beiträge geschrieben. Vor allem aber soll dieser Text keine „Abrechnung“ mit dem Anarchosyndikalismus sein, den Hinrichs meiner Meinung nach als Gegenspieler des Organisationsdualismus aufbaut. Es gibt in der Tat einige wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Ansätzen, die man nicht verschweigen sollte. Aber wir alle als Verfechter:innen eines klassenkämpferischen und kommunistischen Anarchismus profitieren mehr von einer konstruktiven und solidarischen Diskussion dieser Unterschiede als davon, einander niederreden zu wollen. Ich erhoffe mir deshalb gerade auch, dass dieser Text zu einem besserem Dialog zwischen verschiedenen Ansätzen beiträgt, in dem er Unterschiede klarer herausstellt und benennt.

Organisationsdualismus und die politische anarchistische Organisation

Der Organisationsdualismus ist eine Tendenz in der anarchistischen Bewegung, die sich in der Geschichte aus ihr heraus entwickelt hat und von verschiedenen Anarchist:innen und Organisationen vertreten wurde und vertreten wird. Anhänger:innen des Organisationsdualismus beziehen sich unter anderem auf frühe Aussagen von Bakunin und Kropotkin, aber auch auf den italienischen Anarchisten Errico Malatesta genauso wie auf die Anarchokommunistische Föderation Bulgariens in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Corrêa definiert den Organisationsdualismus als „die Idee, dass sich Anarchist:innen parallel auf zwei Ebenen organisieren müssen.“ Weil diese zwei Ebenen (daher auch der Begriff „Dualismus“) einander bedingen und nicht eine über der anderen steht, möchte ich hier bewusst nicht von erster oder zweiter Ebene sprechen.

Die eine Ebene bezeichnet Corrêa als „gesellschaftliche“ bzw. „soziale“ Ebene. Auf dieser Ebene befinden sich Kämpfe, Bewegungen und Organisationen, in denen Menschen aus der lohnabhängigen Klasse in erster Linie zusammenkommen, weil sie mit den gleichen konkreten Problemen konfrontiert sind und dagegen angehen wollen. Gewerkschaften, in denen sich Beschäftigte zusammenschließen, um gegen miese Löhne zu kämpfen. Mietinitiativen, in denen Nachbar:innen gegen hohe Mieten und Verdrängung kämpfen. Schulstreiks, mit denen Schüler:innen gegen die Klimazerstörung demonstrieren. Massenproteste gegen rassistische Polizeigewalt, die von Schwarzen Menschen und People of Color angeführt werden. Feministische Streiks am 8. März, bei denen lohnabhängige FLINTAs den normalen Ablauf von Kapitalismus und Patriarchat unterbrechen. All diese Kämpfe haben gemeinsam, dass sich Menschen mit sehr verschiedenen politischen Ansichten in sie einbringen und Seite an Seite kämpfen. Denn im Vordergrund steht das gemeinsame Problem nicht eine abstrakte philosophische oder politische Überzeugung. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Menschen, die sich in gesellschaftliche Kämpfe einbringen, keine politischen Gedanken machen. Jeder Mensch macht sich auch abstrakte Gedanken über gesellschaftliche Vorgänge und unser Handeln ist immer auch eine Konsequenz unserer abstrakten Gedanken und Überzeugungen – wie natürlich auch der materiellen Realität, in der wir leben und die diese Überzeugungen entscheidend prägt. Die materielle Realität, in diesem Fall also das geteilte konkrete Problem ist jedoch das, was uns Lohnabhängige auf der gesellschaftlichen Ebene in sozialen Kämpfen zusammenbringt.

Der Organisationsdualismus schlägt also vor, dass sich Anarchist:innen auf der sozialen Ebene in diese Kämpfe einbringen, an der Seite anderer Lohnabhängiger kämpfen, sich für die Schaffung stabiler und kampffähiger Organisationen der Klasse einsetzen und die anarchistische Idee in ihnen stärken sollen. Corrêa betont, dass hier die erste Trennlinie in der historischen anarchistischen Bewegung liegt. Denn organisationsfeindliche Anarchist:innen lehnten die Schaffung von oder Beteiligung an formellen sozialen Organisationen z.B. Gewerkschaften ab. Der Syndikalismus als die vermutlich wichtigste Tendenz in der anarchistischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts befürwortete dagegen diese Organisationen – zumeist Gewerkschaften – und die Beteiligung der Anarchist:innen in ihnen. Allerdings vertraten die Befürworter:innen des Syndikalismus in der anarchistischen Bewegung im Gegensatz du den Befürworter:innen des Organisationsdualismus den Standpunkt, dass starke und revolutionäre Massengewerkschaften ausreichen würden, um die soziale Revolution zu erreichen und den freiheitlichen Kommunismus herbeizuführen. Die Anarchist:innen sollten sich also darauf beschränken oder sich zumindest darauf konzentrieren, in den Gewerkschaften zu arbeiten. Diese Position vertrat beispielsweise der französische Anarchist und Syndikalist Pierre Monatte, der sich auf dem Anarchistischen Kongress in Amsterdam 1907 unter anderem einen Schlagabtausch mit Errico Malatesta lieferte. Corrêa bezeichnet den Amsterdamer Kongress als den Moment, als die Frage der anarchistischen Organisierung erstmals breit diskutiert wurden. Hier traten dann auch die Differenzen zwischen der Tendenz des Syndikalismus und des Organisationsdualismus in der anarchistischen Bewegung offen zu Tage.

Denn die Anhänger:innen des Organisationsdualismus sahen und sehen die Notwendigkeit und den Vorteil zusätzlicher Organisationen auf der „politisch-ideologischen“ Ebene wie Correa sie bezeichnet. Im Kontrast zu den Organisationen der sozialen Ebene sollen die Organisationen dieser Ebene Menschen nicht auf der Basis gemeinsamer Probleme, sondern aufgrund ihrer abstrakten philosophischen oder politischen Überzeugungen vereinen. In diesem Fall soll die Idee des Anarchismus als Grundlage dienen, um explizit anarchistische politische Organisationen zu schaffen (teilweise wird auch der Begriff „Ideenorganisationen“ in Abgrenzung zu den „Interessensorganisationen“ der sozialen Ebene verwendet). Die Befürworter:innen des Organisationsdualismus sehen verschiedene Gründe für eine spezifische Organisierung als Anarchist:innen als Gegenstück zur Arbeit auf der sozialen Ebene.

Sie zweifeln an, dass die syndikalistische Gewerkschaftsbewegung in der Lage ist, von selbst die soziale Revolution und den freiheitlichen Kommunismus herbeizuführen. Sie begründen dies damit, dass der Gewerkschaftskampf als klassischer Reformkampf typischerweise anfällig ist für reformistische Tendenzen. Denn wenn sich Arbeiter:innen auf der Basis konkreter Forderungen zusammentun, dann wird es für viele, die kein gefestigtes revolutionäres Bewusstsein haben, attraktiv sein, sich nach ersten Erfolgen mit diesen zufrieden zu geben. Besonders dann, wenn Staat und Bosse klar machen, dass weitergehende Forderungen einen hohen Preis haben werden. Hinzu kommt, dass in der syndikalistischen Bewegung viele verschiedene politische Ideen um die Vormachtstellung ringen. Weil die Bewegung selbst kein klares ideologisches Profil hat, ist sie anfällig dafür, sich Ideen zuzuwenden, die den Weg zum freiheitlichen Kommunismus blockieren. Befürworter:innen des Organisationsdualismus wiesen beispielsweise auf die französische syndikalistische Bewegung hin, in der es Anfang des 20. Jahrhundert zwar einen starken anarchistischen Einfluss gab, aber immer wieder auch autoritär-kommunistische oder sozialdemokratische Organisationen an Einfluss gewannen. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte die kommunistische Partei in der CGT, also eben der Gewerkschaft in der Monatte Mitglied war, eine jahrzehntelange Dominanz. Anarchist:innen spielen heute in den CGT-Gewerkschaften praktisch keine Rolle mehr.

Die Befürworter:innen des Organisationsdualismus sehen deshalb eine anarchistische Organisation, die sich ihre Eigenständigkeit bewahrt und zwar in den Alltagskämpfen agiert, aber nicht in ihnen aufgeht, als notwendig an. Diese Eigenständigkeit wurde und wird als Schutzmechanismus vor reformistischen und opportunistischen Fallstricken gesehen. Doch die politische Organisation sei nicht nur notwendig, sondern bringe auch weitere Vorteile mit sich.

Erstens schafft die explizite anarchistische Organisation einen Raum für Austausch, Diskussion und damit Weiterentwicklung der anarchistischen Theorie und Strategie. In einer lokalen Sektion einer syndikalistischen Massengewerkschaft, die sich richtigerweise vor allem um den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen kümmert und in der nur eine Minderheit der Mitglieder überzeugte Anarchist:innen sind, wären solche tiefgreifenden Debatten wenig fruchtbar oder müssten auf einer sehr grundlegenden Ebene geführt werden. Realistischer ist, dass die Anarchist:innen, die sich nur in der Gewerkschaft begegnen, gar nicht erst zu gemeinsamen Diskussionen zusammenfinden und von einander isoliert bleiben würden. Eine im besten Fall überregionale anarchistische Organisation erlaubt es dagegen, fortgeschrittenere Diskussionen zu eröffnen, weil sie außerhalb der syndikalistischen Tageskämpfe agiert und weil sie die grundlegende anarchistische Überzeugung bereits voraussetzt.

Zweitens erlaubt die anarchistische politische Organisation eine bessere Koordinierung der anarchistischen Aktivitäten auf der sozialen Ebene. Ohne den Raum für Diskussion und Austausch ist auch die dauerhafte und überregionale Koordinierung der Arbeit einzelner Genoss:innen und Gruppen in eine gemeinsame Richtung nicht möglich. Das führt dazu, dass die Anarchist:innen in unterschiedliche Richtungen arbeiten und sich damit im schlimmsten Fall gegenseitig schaden oder keinen effektiven Gegenpol gegen schädliche Einflüsse in den Gewerkschaften bilden können. Der Plattformismus, der auf dem Organisationsdualismus aufbaut (dazu später mehr) betont besonders diesen Aspekt und fordert eine „einheitliche Taktik und kollektives Handeln“. Diese Forderung lehnten viele Verfechter:innen des Organisationsdualismus jedoch ab.

Drittens erleichtert die anarchistische politische Organisation es den Anarchist:innen, ihren Ideen Gehör zu verschaffen. Ohne eine gemeinsame anarchistische Organisation gibt es keine kollektive Kraft, die die anarchistische Propaganda in der Klasse verbreitet und die Idee bekannter macht. Die verstreuten Anarchist:innen müssen sich darauf verlassen, jede:r für sich mündliche und schriftliche Überzeugungsarbeit zu leisten. Tun sie sich zusammen können sie ihre Propaganda deutlich ausbauen und mehr Menschen erreichen.

Viertens erleichtert die anarchistische politische Organisation es den Anarchist:innen, ihre Infrastruktur aufzubauen. Dieser Aspekt ist eng mit der Entwicklung der Propaganda verbunden, da deren Erfolg auf einer soliden Infrastruktur an Häusern, Werkstätten, Fortbewegungsmitteln und gefüllten Konten aufbaut. Kommen die Anarchist:innen zusammen, können sie all das stemmen.

Dem Organisationsdualismus geht es also zusammengefasst darum, explizit anarchistische politische Organisationen zu schaffen als Gegenstück zur Arbeit der Anarchist:innen in den sozialen Kämpfen, mit dem Ziel, die anarchistische Bewegung und die Position des Anarchismus in den sozialen Kämpfen zu stärken und eine soziale Revolution herbeizuführen. Dieser Ansatz blieb dabei nie einfach ein anarchistisches Elfenbeinturm-Phänomen. Verschiedene anarchistische politische Organisationen – strömungsübergreifende, plattformistische wie especifistische – nahmen ihn zur Inspiration und bauten ihre praktische Arbeit auf ihm auf.

Auch wenn heute eine syndikalistische Massenbewegung in Weite ferne gerückt ist, bleiben die grundsätzlichen Probleme, die den Organisationsdualismus relevant gemacht haben, weiter bestehen. Wie kann es gelingen, die Entwicklung anarchistischer Theorie, Strategie und Propaganda zu fördern? Wie können die Anarchist:innen aus ihrer gesellschaftlichen Isolation herauskommen und echte Relevanz in Massenbewegungen und sozialen Kämpfen entfalten? Wie kann die Arbeit der Anarchist:innen in den Kämpfen koordiniert werden? Der Organisationsdualismus bietet darauf einige Antworten, die von Plattformismus und Especifismo weiter ausgeführt werden und denen der Anarchosyndikalismus als historisch relevanteste Strömung im Anarchismus widerspricht. Ein guter Anlass also, uns jetzt dem Text des anarchosyndikalistischen Genossen Hinrichs zuzuwenden.

Einige Klarstellungen zu Organisationsdualismus, Plattformismus und Anarchosyndikalismus

Die Kritik Hinrichs basiert auf folgender Passage Kuhns, die ich hier einfach mal wiedergebe, damit das Ganze leichter zu verstehen ist:

„Malatesta meinte, dass man sich nicht von den Massen trennen sollte, indem man in jedem Lebensbereich ideologisch reine Organisationen schafft (zum Beispiel anarchistische Gewerkschaften), sondern dass man sich auf das Schaffen politischer Organisationen beschränken sollte, um dann Einfluss in Massenorganisationen zu gewinnen und Menschen aller Art zu erreichen. Ich halte den Ansatz für richtig, auch heute noch.“

Kuhn umreißt in dieser Textpassage – so verstehe ich ihn zumindest – die Idee des Organisationsdualismus und gibt sich als Befürworter dieser Idee zu erkennen, wenn auch er sie nicht beim Namen nennt. Sollte ich falsch liegen, dann freue ich mich sehr darüber, wenn Kuhn mich korrigiert.

Hinrichs schreibt, dass man Kuhns Text „letztendlich dem Plattformismus“ zurechnen kann. Das ist falsch. Beim Plattformismus handelt es sich um einen viel weiter gedachten anarchistischen Organisationsansatz. „Weiter“ gedacht deshalb, weil der Plattformismus die grundlegenden Ideen des Organisationsdualismus zwar übernimmt und zu dieser Tendenz im Anarchismus gehört, sein tatsächlich neuer Beitrag zur Debatte aber in einem Vorschlag für die Gestaltung der politischen anarchistischen Organisation besteht. Der Plattformismus schlägt vor, dass die anarchistische Organisation den Prinzipien der theoretischen Einheit, der taktischen Einheit und der kollektiven Aktion, der kollektiven Verantwortung und des Föderalismus folgen soll. Für eine weitergehende Erläuterung des Plattformismus empfehle ich die Erklärung auf Anarchismus.de sowie den Einführungsvortrag der Plattform und das hervorragende Video von Anark. Durch seine Kernprinzipien grenzt sich der Plattformismus von anderen Ansätzen für die Gestaltung der anarchistischen politischen Organisation ab – in erster Linie von der Synthese, die eine Zusammenarbeit der Anhänger:innen verschiedener anarchistischer Strömungen in einer Organisation vorschlägt. Organisationsdualismus und Plattformismus kann und sollte man also nicht gleichsetzen. Das verwässert am Ende nur beide Begriffe und ist einer konstruktiven Debatte hinderlich.

Auch wenn Gabriel Kuhn möglicherweise ein Anhänger des Organisationsdualismus ist, steht er dem Plattformismus skeptisch gegenüber. Das geht für mich aus seinen Aussagen im Gespräch mit den beiden Genossen vom Übertage-Podcast hervor (etwa ab Minute 40). Um fair zu bleiben: Hinrichs behauptet auch gar nicht, dass Kuhn Plattformist ist, sondern dass sein Artikel letztlich dem Plattformismus zuzurechnen ist. Auch das halte ich allerdings für falsch. In keinem Wort in der obigen Aussage oder im Artikel spricht sich Kuhn für eine anarchistische Organisation nach den vier grundsätzlichen Prinzipien des Plattformismus aus. Für mich ist Kuhns Artikel eine passende Antwort auf die Frage, warum es sinnvoll ist, sich auf den Anarchokommunismus zu beziehen – ergänzt mit einem kleinen Seitenverweis auf den Organisationsdualismus. Ein Plädoyer für den Plattformismus ist er nicht.

Als nächstes erklärt Hinrichs, was er unter Plattformismus versteht und stellt die Behauptung auf, Plattformist:innen wollten „sich zusammenschließen, um zu versuchen mit ihren anarchistischen Inhalten auf andere Bewegungen, Parteien, Organisationen Einfluss zu nehmen“. Dieser Idee wirft Hinrichs vor, dass sie entgegen ihrer Selbstdarstellung elitär „bis auf die Knochen“ sei. Ich gehe davon aus, dass Hinrichs hier wieder Organisationsdualismus und Plattformismus durcheinander wirft, denn die zentralen Prinzipien des Plattformismus nennt er nicht. Er liegt mit dem ersten Teil seiner Aussage dennoch größtenteils richtig. In der Tat sollen nach dem Plattformismus die Anarchist:innen in Massenbewegungen der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen auf der sozialen Ebene aktiv sein und ihre Arbeit in der plattformistischen Organisation koordinieren. Das Ziel dieser Arbeit ist es, dass der Anarchismus „zur führenden Idee der sozialen Revolution“ wird, wie es in der „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“ von 1926 heißt Quelle. Es geht also in der Tat um eine aktive Einflussnahme. Seltsam ist nur, dass Hinrichs dem Plattformismus andichtet, auch nach Einfluss in Parteien zu streben und dafür eine anarchistische Plattform in der PDS anführt. Der Plattformismus lehnt wie jede andere anarchistische Strömung die politischen Parteien und jede Beteiligung in ihnen ab. Hat es jemals wirklich eine anarchistische Plattform in der PDS gegeben, dann wird die Namensähnlichkeit zum Plattformismus darauf zurückzuführen sein, dass sich Zusammenschlüsse in dieser Partei gelegentlich so nennen (siehe zum Beispiel die „Kommunistische Plattform“ in der heutigen Linkspartei). Mit dem Plattformismus hat das freilich nichts zu tun.

Tatsächlich von Bedeutung ist Hinrichs Vorwurf des Elitarismus. Er erläutert nicht, was genau am Plattformismus elitär ist, ich gehe aber mal davon aus, dass er Organisationsdualismus und Plattformismus wieder vermengt. Stimmt das, dann scheint der Vorwurf zu sein, dass die Anhänger:innen des Plattformismus bzw. Organisationsdualismus versuchen würden, Einfluss auf soziale Organisationen zu nehmen, eine kontrollierende Avantgarde bildeten wie damals die FAI gegenüber der CNT im Spanien der 1930er Jahre und das Gerede von sozialen und politischen Organisationen sowieso nur darauf zurückzuführen sei, dass Leute wie Malatesta die Arbeiter:innen als zu dumm dafür betrachteten, irgendwas anderes als Gewerkschaften zu bilden. Auf diese Vorwürfe möchte ich eingehen.

Dabei sei zuerst gesagt: Ich habe viel zu wenig historische Kenntnisse über die Beziehung von FAI und CNT, um mir hier eine Aussage zu erlauben. Dass Malatesta aber auf die Arbeiter:innen und den Syndikalismus herabschaute, halte ich für eine hanebüchene Aussage. Malatesta war selbst sein ganzes Leben lang Verfechter des Gewerkschaftskampfes, baute in Argentinien beispielsweise die Bäcker-Gewerkschaft mit auf. Die plattformistische Anarchist Communist Group aus Großbritannien hat erst kürzlich einen guten Artikel zu Malatesta veröffentlicht. Dennoch möchte ich auf den Inhalt des Aussage eingehen, der ja lautet, dass die Verfechter:innen des Organisationsdualismus die Arbeiter:innen für zu dumm hielten. Diese Behauptung halte ich für falsch. Die meisten Anarchist:innen, die sich für politische anarchistische Organisationen aussprachen, kamen wie der Rest ihrer Genoss:innen aus der Arbeiter:innenklasse. Der Anarchismus war ja keine philosophische Bewegung, sondern in erster Linie eine radikale Strömung in der Arbeiter:innenbewegung. Die Annahme, dass der Syndikalismus nicht in der Lage wäre, die Revolution selbst zu machen, war auch keinem sozialchauvinistischen Vorurteil entsprungen, sondern lediglich Schlussfolgerung aus der Situation, wie sie sich ab der Jahrhundertwende in Europa, aber auch in den Amerikas für viele Anarchist:innen darstellte. Die syndikalistische Bewegung war stark, aber es gelang ihr nicht, diese Stärke in einen sozialen Umsturz umzusetzen. Stattdessen verlor der Anarchismus in den kommenden Jahrzehnten zum Beispiel im französischen Syndikalismus, aber auch in den Gewerkschaftsbewegungen Lateinamerikas wieder an Einfluss. In dieser Situation erschien es schlicht als Notwendigkeit, sich nicht mehr länger nur als Syndikalist:innen zu organisieren, sondern dem Anarchismus durch eigene Organisationen wieder an Relevanz zu verleihen und in diesem Sinne Einfluss zu nehmen auf soziale Kämpfe.

Das hob besonders der Plattformismus hervor, der ja wie oben bereits dargelegt, für die „ideelle“ Vormachtstellung des Anarchismus in der Gewerkschaftsbewegung kämpfen wollte. Gemeint ist im Kontrast zu einer tatsächlichen Führung der Bewegung durch eine Person oder eine Organisation die führende Rolle der anarchistischen Idee. Hier möchte ich eine Frage stellen. Ist es tatsächlich elitär, daran zu arbeiten, dass der Anarchismus als Idee in einer Bewegung die herausragende Rolle einnimmt und gegen Strömungen zu arbeiten, die den Kampf für die Befreiung sabotieren? Vielleicht vertritt Hinrichs tatsächlich diese Meinung, weil er annimmt, dass sich Massenbewegungen von selbst dem Anarchismus zuwenden. Ich aber habe da mit einem Blick auf die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung meine Zweifel. Ich sehe es als notwendig an, in den sozialen Kämpfen den Anarchismus aktiv zu propagieren ohne dabei die gesamte Bewegung zum Anarchismus "bekehren" zu wollen. Vielleicht vertritt Hinrichs seine Meinung auch, weil die Arbeit durch eine Organisation koordiniert wird, die eine überzeugte Minderheit in der gesamten Arbeiter:innenbewegung darstellt. Für mich wirft das die Frage auf, ob es dann überhaupt legitim ist, für den Anarchismus einzutreten und ihn zu propagieren. Sind wir nicht immer in der Minderheit? Und ist es nicht unser Ziel, andere Menschen von unserer Idee zu überzeugen, weil wir sie grundsätzlich für richtig halten? Wenn nicht, warum sind wir dann Anarchist:innen? Das sind keine rhetorischen Fragen. Ich fände es spannend von Hinrichs Antworten auf diese Fragen zu bekommen.

Als nächstes geht Hinrichs auf den Begriff der „ideologisch reine[n] Organisationen“ ein, wie Kuhn ihn verwendet. Tatsächlich teile ich Hinrichs Kritik am Wort „rein“, auch wenn Kuhn es hier verwendet, um zu erklären, dass Malatesta die Schaffung von politischen Organisationen ablehnt, die letztlich die Aufgaben sozialer Organisationen erfüllen sollten. Weil Hinrichs auf den Begriff weiter eingeht will ich hier dennoch betonen, dass kein Anarchist, auch kein Plattformist den Standpunkt vertreten würde, dass irgendeine oder gar seine Organisation „rein“ zu sein hätte. Es geht dem Plattformismus nicht darum dem reinen Dogma nachzuhecheln, sondern eine gemeinsame Arbeitsgrundlage in Form eines Programms zu finden. Um dann eben in solchen Organisationen der sozialen Ebene arbeiten zu können, die kein oder nur ein sehr grundlegendes Programm verfolgen. Dabei hat der Plattformismus in seiner Geschichte immer eine hohe Flexibilität bewiesen, weil er sich nicht darauf festlegen wollte, dass die Gewerkschaften anarchosyndikalistisch sein müssen. Stattdessen arbeitete er in den kämpferischen Gewerkschaften, die gerade zugegen waren und wo es sinnvoll war eine Arbeit zu entwickeln.

Nun wendet sich Hinrichs dem Anarchosyndikalismus zu. Er betont, dass anarchosyndikalistische Gewerkschaften „wirtschaftliche“ und „politische“ Organisationen zu gleich seien und lehnt die „künstlich konstruierten Polaritäten“ zwischen den Ebenen, die der Organisationsdualismus aufmacht, ab. In der Tat scheint der Anarchosyndikalismus in vielerlei Hinsicht eine Anomalie der Organisierungsdebatte zu sein. Er vereint den Dualismus des Sozialen und des Politischen in einer Organisation. Und wenn wir uns seine Geschichte anschauen, dann anscheinend auch noch ziemlich erfolgreich. Es ist offensichtlich, dass anarchosyndikalistische Gewerkschaften – die CNT war ja mitnichten die einzige und auch nicht die einzige mit einer Massenbasis – keineswegs einfach gescheitert sind, so wie es vielleicht die Gegner:innen politischer Gewerkschaften vorhergesagt haben. Sie konnten immer wieder eine Zustrom an Mitgliedern verzeichnen und sich stellenweise als wichtige Kraft in der Arbeiter:innenbewegung aufstellen. Nach innen propagierten sie mit wechselndem Erfolg die anarchistische Idee und nahmen ihre praktische Umsetzung voraus. Doch die vielen Erfolge der bedeutendsten Strömung des Anarchismus dürfen uns heute nicht über die Probleme hinwegtäuschen, die der Balanceakt zwischen revolutionärem Ziel und alltäglichem Reformkampf, immer wieder mit sich gebracht hat. Der europäische Anarchosyndikalismus in der Zeit nach dem Faschismus war lange davon geprägt, dass er in der Breite nicht über mehr oder minder kleine Kollektive überzeugter Anarchosyndikalist:innen hinauskam, die sich als Gewerkschaft gerierten, aber tatsächlich in erster Linie politische Organisationen waren. Diese Situation hat sich in Deutschland erst in den letzten zehn Jahren wirklich verbessert. Der Genosse Steff Brenner führt diese Entwicklung in seinem Artikel für die Direkte Aktion richtigerweise darauf zurück, dass die FAU sich stärker auf ihren Charakter als kämpferische Gewerkschaft konzentrierte und größtenteils aufhörte, als anarchosyndikalistische Ideenorganisation zu arbeiten. Auf der anderen Seite des misslungenen Balanceakts stehen die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften, die unter dem Eindruck des massiven Zustroms von Mitgliedern, die keine überzeugten Anarchist:innen waren oder der sich verändernden Großwetterlage ihre anarchosyndikalistischen Prinzipien teilweise aufgaben oder schlicht nicht in der Lage waren, sich gegen andere Kräfte zu verteidigen. Das bekannteste Beispiel dürfte die Spanische Revolution sein, als es der CNT trotz ihrer Massenbasis nicht gelang, gegen die zahlenmäßig schlechter aufgestellten republikanischen Kräfte die soziale Revolution durchzusetzen. Stattdessen geriet man ins Hintertreffen und entschloss sich schließlich sogar, CNT-Minister:innen in die republikanische Regierung zu entsenden. Doch auch die Auslöschung der Anarchosyndikalist:innen aus der russischen Rätebewegung nach der Oktoberrevolution durch die Bolschewiki ist ein Beispiel dafür, dass die gewerkschaftliche Organisierung alleine – auch die anarchosyndikalistische – kaum in der Lage ist, sich gegen äußere Angriffe gut organisierter feindlicher Kräfte zu behaupten. Die Erlebnisse in Russland und der Ukraine waren im übrigen der Usprung der plattformistischen Idee, weil die exilierten russischen und ukrainischen Anarchist:innen nicht noch einmal erleben wollten, wie eine sicher geglaubte soziale Revolution am Ende zur Katastrophe für die Anarchist:innen wird.

Wenn sich die gesellschaftliche Situation wieder zu unseren Gunsten verändert und wir alle unsere Arbeit gut machen, dann werden wir hoffentlich erneut einen massiven Zuwachs von Mitgliederzahlen in anarchosyndikalistischen Gewerkschaften erleben. Und das ist gut so! Die Frage ist nur, wie die freiheitlichen Prinzipien dieser Gewerkschaften angesichts eines solchen Zustroms von Mitgliedern, die keine überzeugten und eingelesenen Anarchist:innen oder Anarchosyndikalist:innen sind, bewahrt oder sinnvoll modifiziert werden können. Der Plattformismus würde vorschlagen, dass die überzeugten Anarchistinnen in koordinierter Weise ihren Standpunkt in einer transparenten Diskussion innerhalb der Organisation vertreten und für ihre Vorstellung von Gewerkschaft eintreten. Und dass sie in einer revolutionären Situation versuchen, die Verteidigung der anarchistischen Position zu koordinieren. Aber damit das tatsächlich gelingen kann, braucht es in meinen Augen eine politische anarchistische Organisation, die den Raum schafft, um sich als Anarchist:innen auszutauschen und zu koordinieren. Da Hinrichs und andere Anarchosyndikalist:innen das offensichtlich ablehnen, fände ich es spannend zu erfahren, wie sie mit solchen Situationen umgehen würden. Auch in diesem Sinne würde ich mich über einen weiteren Austausch sehr freuen.

PS: Dass Hinrichs meint, den Begriff „anarchistische Gewerkschaft“ als „Vergewaltigung von Sprache“ bezeichnen zu müssen, finde ich mehr als bedenklich – weil es arrogant ist und auf völlig inakzeptable Weise Vergewaltigung als Metapher nutzt.

Peter Brandt

Peter kam vor einigen Jahren als Jugendlicher über die antifaschistische Bewegung zum Anarchismus. Er ist aktiv in Klimabewegung sowie in der anarchakommunistischen Plattform und lebt in Dortmund. Seine Interessensschwerpunkte sind Fragen der weltweiten anarchistischen Geschichte, Organisierung und Strategie.

Vorheriger Beitrag Nächster Beitrag