Geschichte von unten: Die bayerische Räterepublik


Gabriel Kuhn
Rezension Geschichte

Eine Rezension von Roman Danyluk, Unter sticht Ober. Eine Sozialgeschichte der bayerischen Revolution 1918/19 (Bodenburg: Edition AV, 2022), EUR 24,50.

Die bayerische Räterepublik, die im Frühjahr 1919 im Zuge der revolutionären Entwicklungen in Deutschland nach Ende des 1. Weltkriegs für einige Wochen existierte, ist ein bisschen ein Mythos in anarchistischen Kreisen. Weit über den deutschen Sprachraum hinaus wird sie als Beispiel für die Realisierung einer (quasi-)anarchistischen Gesellschaft gefeiert. So stimmt das freilich nicht. Das Bild nährt sich im Wesentlichen daher, dass zwei der historisch prominentesten deutschen Anarchisten, Erich Mühsam und Gustav Landauer, in der Räterepublik eine wichtige Rolle spielten. Die Räterepublik wurde jedoch von vielen sozialistischen Kräften getragen: der damals in SPD und USPD gespaltenen Sozialdemokratie, der neu gegründeten KPD sowie verschiedenen parteiunabhängigen Gruppierungen und Bewegungen.

Nachdem sich 2019 die Ausrufung der bayerischen Räterepublik zum hundertsten Mal jährte, erschienen in den vergangenen Jahren einige interessante Titel zum Thema, darunter Simon Schaupps Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution sowie Steckbriefe. Ein Lesebuch über Münchner Revolutionärinnen und Revolutionäre im Januar 1918, herausgegeben von Cornelia Naumann und Günther Gerstenberg.

Unter sicht Ober Cover

Nun hat der Verlag Edition AV eine umfassende „Sozialgeschichte der bayerischen Revolution“ herausgegeben, unter dem gelungenen Titel Unter sticht Ober. Autor ist Roman Danyluk, langjähriges Mitglied der FAU in München und Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel zur Geschichte der Arbeiterbewegung.

Danyluk will „die damaligen Geschehnisse aus einer Perspektive von unten“ erzählen und beschreibt seinen Ausgangspunkt so: „Die bayerische Revolution 1918/19 war ... kein von ein paar hundert Parteiführern, Intellektuellen, KünstlerInnen und LiteratInnen ersonnenes Projekt. Sie war ebenso wenig das Werk Einzelner oder der raffinierte Plan einer Handvoll Linker. Das epochale Ereignis war vielmehr der großangelegte Emanzipationsversuch von hunderttausenden Angehörigen der Arbeiter- und Unterklassen sowie von Teilen der Bauernschaft und feministischen Frauen. In ihm artikulierten sich die sozialen Bedürfnisse von unzähligen benachteiligten Menschen.“

Wie gewohnt, geht Danyluk sehr gründlich vor. Das Buch beginnt mit einer Skizze der „Sozialen Klassen und Bevölkerungsgruppen“ in Bayern zu Beginn des 20. Jahrhundert (Kap. 1) und einem Überblick über die „Parteien und politischen Kräfte in der bayerischen Revolution“ (Kap. 2). Vor allem auf die Aktivitäten der Arbeiterklasse geht Danyluk ausführlich ein, mit einem genauen Blick auf die unterschiedlichen Regionen Bayerns und spezifische Industrien. Besonders erfreulich – gerade aus anarchistischer Perspektive – ist, dass Danyluk auch über das anarchistische Milieu in Bayern jenseits von Landauer und Mühsam schreibt (Landauer wurde dort erst während der revolutionären Phase aktiv, Mühsam schon einige Jahre zuvor) sowie über die radikalen gewerkschaftlichen bzw. syndikalistischen Strömungen, die ansonsten in der Geschichtsschreibung oft untergehen (auch von linker Seite). Ebenso erfreulich ist das besondere Augenmerk, dass Danyluk der Frauenbewegung als wichtigem Faktor im revolutionären Treiben schenkt.

In den Kapiteln 3 bis 5 erzählt Danyluk, wie sich die Geschichte der „Novemberrevolution“ (Nachkriegsrevolution in ganz Deutschland) in Bayern abspielte, und dies in der Ausrufung der Räterepublik am 7. April mündete – und wie die Räterepublik in den ersten Maitagen 2019 von reaktionären Kräften zerschlagen wurde. Wieder fließen viele regionale Details ein, auch zu Oberbayern, was von besonderem Interesse für jemanden wie mich ist, der knapp 20 Kilometer von Rosenheim entfernt aufwuchs (auf der österreichischen Seite der Grenze).

Kapitel 6 ist wenig erbaulich, aber unvermeidlich. Es geht um „Repression, weißen Terror und Rachejustiz“. Auch Gustav Landauer wurde im Zuge der Zerschlagung der Räterepublik ermordet, genauso wie viele andere, weniger bekannte Revolutionär:innen.

Besonders spannend wird es noch einmal im letzten Kapitel, „Kritik und Diskussion“ (Nr. 7). Danyluk geht methodisch vor und präsentiert hilfreiche Listen, zum Beispiel zu den Verbesserungen, die die Revolution in Bayern für die Bevölkerung gebracht hatte: vom allgemeinen Wahlrecht über den Achtstundentag bis zu einer Reform des Bildungswesens. Die vielleicht größte Bedeutung der Ereignisse, die „Selbstermächtigung der Angehörigen der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen“, geht über konkrete Errungenschaften noch hinaus.

Danyluk listet auch die wichtigsten Gründe für das Scheitern der Räterepublik auf, darunter eine „unrealistische Einschätzung der tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse“, eine „Selbstüberschätzung der revolutionären Kräfte“, „keine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse“ und die „nicht ausreichende Einbeziehung anderer Bevölkerungsgruppen, etwa der Bauernschaft“. Letzteres ist wiederum von besonderem persönlichen Interesse für mich, da ich in einem sprichwörtlichen „Kuhdorf“ aufgewachsen bin und es oft bedauert habe, dass die Agrarfrage innerhalb der europäischen Linken historisch vernachlässigt wurde. Auch für die politischen Entwicklungen in Österreich war das verheerend. Aber das ist eine andere Geschichte (wenn auch nicht ganz).

Man kann Roman Danyluk und dem Verlag Edition AV nur ein Lob dafür aussprechen, diesen schönen, informativen und gut lesbaren Band herausgebracht zu haben. Wer mehr zu Revolution und Räterepublik in Bayern wissen will und sich Zeit für 400 Seiten spannender Lektüre nehmen kann, sollte hier beginnen.

Gabriel Kuhn

Titelbild: Bundesarchiv, Bild 146-1992-092-04 / CC-BY-SA 3.0

Gabriel Kuhn

Gabriel Kuhn ist Schriftsteller und Autor von Büchern, die sich mit sozialistischer Theorie und Geschichte und sozialen Bewegungen beschäftigen. Er veröffentlicht Werke in deutscher und englischer Sprache.

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