Ein Interview mit Helge Döhring


FAU Schweiz Helge Doehring
Interview Helge Döhring di schwarzi chatz

Interview durch das Lokalsyndikat Biel/Bienne der FAU mit Helge Döhring, abgedruckt in „di schwarzi chatz“, Nr. 73, Frühling 2025:

Schwarzi Chatz: Kannst du die Idee des Anarchosyndikalismus kurz skizzieren?

Helge Döhring: Der Anarchosyndikalismus verfügt über Ideen und Strukturen, die einen freiheitlichen Sozialismus ermöglichen. Zentral ist das Konzept der „Arbeitsbörsen“, das die komplette Übernahme und Koordination sämtlicher Produktionsbereiche (Industrien) und Konsumtion durch basisdemokratische und föderalistische Strukturen vorsieht. Rudolf Rocker schrieb dazu in der Prinzipienerklärung des Syndikalismus (1919):

„Die Gewerkschaften der verschiedenen Berufe vereinigen sich an jedem Orte in der Arbeiterbörse, dem Mittelpunkt der lokalen gewerkschaftlichen Tätigkeit“ und erklärt die Funktion wie folgt: „[…] Organisation der Betriebe und Werkstätten durch die Betriebsräte; Organisation der allgemeinen Produktion durch die industriellen und landwirtschaftlichen Verbände; Organisation des Konsums durch die Arbeiterbörsen.“

Woher kommt dein politisches Engagement und wo stehst du heute?

Ich politisierte mich zunächst ganz praktisch und ohne Bücher. Meine Jugend prägte seit 1991 „Antifaarbeit“, die in der niedersächsischen Provinz auch Zeitungen, Infoladen, Archiv hervorbrachte, schließlich selbstverwaltete Jugendzentrumsarbeit. In Bremen war ich seit 1998 zwölf Jahre in der FAU, Sekretär, Archivar, Kassierer, mit Lokalzeitung, Ladenlokal mit vielen Aktionen. In der Bundes-FAU Teilredakteur der „Direkten Aktion“ und Sekretär der Föderation der Bildungssyndikate. Schließlich vertiefte ich mich in Theorie und Geschichte, jedoch in der Einsicht, dass alle Erkenntnisse und Erfahrungen meiner biographischen Entwicklung zusammenwirken: Aktivismus – Administration – Theorie. In diesem Sinne gründete ich 2007 mit anderen das Institut für Syndikalismusforschung. Aus der Bewegung für die Bewegung. Wir sind alle in der Lohnarbeit tätig. Ich arbeite im Transportbereich.

Nicht nur in Deutschland erstarkt eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Bewegung. Welche Lehren ziehst du diesbezüglich aus der Geschichte der anarchosyndikalistischen Bewegung?

Überall sollten Praktiken sozialistischer Ökonomie, des Föderalismus und einer Kultur der gegenseitigen Hilfe eingeübt werden, um dem Faschismus seine Grundlagen (Kapitalismus, Zentralismus und Obrigkeitshörigkeit) zu entziehen. Jede Form von konstruktivem Antifaschismus sollte diese Komponenten als Hauptkriterien formulieren und als Strategien gegen reaktionäre Kräfte bewerben. Was die Bewegung in Deutschland in den 30er Jahren betrifft, ging diese nicht am Faschismus zu Grunde, sondern weit vorher durch Zermürbungstaktiken der Sozialdemokratie (auch Zentralgewerkschaften) und deren Bündnissen mit nationalistischen und faschistischen Kräften. Die Föderalisten standen auf einer Seite, die Zentralisten auf der anderen. Und das ist wichtig. Denn „LinksRechts“-Kategorien verschleiern aus anarchosyndikalistischer Sicht die Frontverläufe.

Im Interview zum 100-jährigen Bestehen der FAUD (1) hast du die Definition formuliert, dass der politische Faschismus bei der Einschränkung der gewerkschaftlichen Freiheiten anfängt. Du stellst fest: „Je weniger sich Gewerkschaften entfalten können, desto mehr Faschismus herrscht in einem Land.“ Wie sieht es aus mit der Gewerkschaftsfreiheit in Deutschland?

Die Zentralgewerkschaften stehen unter rechtlichem Schutz. Nur sie und ihre Methoden sind vom Arbeitsrecht generell legalisiert. Politische Gewerkschaften wie die FAU, die nicht dem DGB angehören, werden nur als politische Vereinigungen angesehen. Als solche können sie leichter illegalisiert werden und sind von offiziellen Verhandlungen mit den Kapitalisten ausgeschlossen. Da sie gesetzlich nicht tariffähig sind, können sie ihre Mitglieder nicht offiziell repräsentieren. Das bringt agitatorische Nachteile in den Betrieben und macht sie weniger attraktiv, da sie kaum Sicherheiten bieten können. Es spielt dann keine Rolle, ob die Zentralgewerkschaften real ebenso wenig Sicherheiten geben, wenn sie ihre Mitglieder systematisch verkuhhandeln und für sie einen Dauerzustand prekärer Arbeitsverhältnisse absegnen: Leiharbeit, Hartz IV-Reform usw.

Wo auch immer die FAU versucht, sich als Gewerkschaft zu etablieren, wird es stets Versuche geben, Konkurrenzgewerkschaften zu etablieren, die unter der Kontrolle des DGB und damit des Kapitals stehen. Die Chancen der FAU liegen dort, wo es für die DGB-Gewerkschaften finanziell nicht lukrativ ist, zu agitieren: Im Bereich der prekären Beschäftigung. Genau dort stößt die FAU zur Zeit vor und gewinnt Mitglieder. Die FAU müsste diesen Widrigkeiten zum Trotz erst einmal den Ruf überregionaler Durchsetzungs- oder Verhandlungsfähigkeit erlangen. Das ist die nächste Stufe, die die FAU zu meistern hat. Sollte sie das erreichen, drohen ihr Diffamierung, Repression und Illegalisierung. Die Zentralgewerkschaften werden an der Spitze dieser Angriffe stehen, und ihre Kader in den Betrieben am aggressivsten gegen unsere Kollegen und Kolleginnen agieren. Das lehren uns die Kämpfe der „Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer“ (GdL). Die FAU wird von überall in die Zange genommen werden. Darauf sollte sie vorbereitet sein. Ihr bester Schutz sind gut ausgebildete, zähe und ideell gefestigte Kader, eine möglichst breite Verankerung in der Bevölkerung und eine föderalistische Organisationsweise.

2018 formierte sich die Klimabewegung, die rasch zu einer breiten Bewegung anwuchs. Gerade im Film „Der Laute Frühling“ (2022) von Labournet.tv wird die Klima- mit der Arbeiter:innenbewegung in Beziehung gesetzt. Grob skizziert, wird im Film die Übernahme der Produktionsmittel durch die Arbeiter:innen erprobt und die Klimaaktivist:innen aufgefordert, sich am Arbeitsplatz zu organisieren. Das Szenario erinnert sanft an den Revolutionsroman „Das letzte Gefecht“ von Pouget/Pataud. Entsteht gerade ein neues Bündnis, wovon auch die Bewegung profitiert, oder bleibt es eine theoretische Debatte? Der Anarchosyndikalismus hat ja effektive Werkzeuge für den System Change – die leider viel zu wenig bekannt sind.

Bestimmte Ideen und Methoden des Anarchosyndikalismus wirken längst in breiten und dominierenden Schichten der Gesellschaft oder haben sich in einigen Bereichen sogar durchgesetzt (Pädagogik oder Wissenschaften). Nur werden die anarchistischen/anarchosyndikalistischen Urheber verschwiegen: Summerhill statt Ferrer oder Frankfurter Schule statt Nettlau und Rocker. Warum auf eine breite, internationale Geschichte der freiheitlich-emanzipatorischen Arbeiterbewegung verweisen, wenn sich das Rad hübsch neu erfinden lässt? Das hat viel mit der Dominanz des Marxismus zu tun, aber auch mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft. Anarchosyndikalismus wird schlicht nicht zur Kenntnis, dafür ihm aber die Butter vom Brot genommen.

Darüber hinaus liegt es auch an den Anarchosyndikalisten selber, ihre Ideen bekannter zu machen. Denn es gibt durchaus Menschen und Institutionen, die keinesfalls so ignorant sind, sondern gerne kooperieren. Wir haben im Institut für Syndikalismusforschung immer wieder fruchtbare Kontakte weit über anarchosyndikalistische Kreise hinaus. Das ist uns sehr wichtig, da wir die Ideen in möglichst viele gesellschaftliche Bereiche tragen wollen.

„Das letzte Gefecht“ (deutsche Übersetzung 1930) beschreibt die Bedingungen und Verläufe der sozialen Revolution unter anarchosyndikalistischen Vorstellungen: Die Übernahme der Produktionsmittel, die Funktionsweisen der Arbeitsbörsen und die Verteidigung dieser Errungenschaften gegen die Konterrevolution. Nur wenige Jahre später sollte 1936 die Praxis in der Spanischen Revolution aller Welt zeigen, dass die Menschen fähig sind, ihr ökonomisches, politisches und kulturelles Geschicks kollektiv und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.

Die polnische Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP) formuliert die Lage sehr kernig (2):

„Als Arbeiter:innen sind wir nicht verantwortlich für die Krise, deren Preis wir zahlen. Allein hundert Unternehmen verantworten über 70 % der globalen Treibhausgasemissionen. Die Struktur dieser Emissionen spiegelt auch die sich verschärfenden sozialen und einkommensbezogenen Ungleichheiten wider (…) Die Ausbeutung der Menschen und die Zerstörung des Planeten resultieren aus ein- und demselben Akkumulationsprozess von Macht und Kapital in den Händen einer kleinen Elite, die nur auf kurzfristige Profite blickt.“

Die IP fordert, dass die Kosten von denjenigen getragen werden sollen, die über Jahre von der Ausbeutung der Umwelt und der Arbeiter*innen profitiert haben. Wir bezahlen nicht für eure Krise! So berechtigt die Forderung ist, findet sie kaum Widerhall in der breiten Bevölkerung. Oder siehst du andere Anzeichen?

Alle Parteien sind bemüht, Klassengegensätze zu kaschieren und zunehmend haben sie Mühen damit, den sozialen Frieden auf Kosten der Lohnabhängigen zu festigen. Nur wer rentabel ist, kann einreisen, wer kostet, soll draußen bleiben. Der Glauben an die von allen politischen Parteien praktizierte Politik schwindet. In dieses Vakuum gilt es, mit eigenen Positionen glaubwürdig zu intervenieren, am besten durch konstruktives Vorleben: Selbstverwaltung, Selbstversorgung in allen elementaren Lebensbereichen, Aufbau alternativer Ökonomien in Stadt und Land, Aufbau emanzipatorischer Entscheidungsstrukturen und -kulturen, Aufbau föderalistischer Gewerkschaftsstrukturen, Kulturzentren, Bildungseinrichtungen; gelebte Solidarität, die diesen Namen nicht braucht, weil sie selbstverständlich ist. Es gibt bereits viele Formen von Selbstorganisationen, die u.a. diverse kapitalistische Krisen auch praktisch abfedern können. Vielleicht gelingt es darüber, deutlich zu machen, dass es nicht reicht, Symptome zu bekämpfen oder zu mildern, sondern die misslichen Grundbedingungen so zu ändern, dass ein friedvolles Zusammenleben Realität wird.

In einem Interview mit dem Autor Kevin Rittberger (3) hast du das Beispiel von Gustav Landauer (1870 – 1919) herangezogen:

„Statt einer Propaganda durch die Tat sah Landauer eine wachsende Kultur solidarischer Beziehungen von unten. Sie würde die alten Machtverhältnisse aufheben, den Staat überflüssig machen... Er setzte jedoch nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Klasse als Trägerin der neuen solidarischen Menschheit, sondern auf die ethischen Überzeugungen der Individuen und auf das Gemeinschaftsgefühl.“ Ein sehr schönes Bild – und eine Blaupause, wie die Welt eigentlich sein könnte?"

Die Marxisten setzten vor allem auf ökonomische Entwicklungen und damit auf eine gesellschaftliche Klasse als Triebfeder im Kampf um einen Sozialismus. Landauer betonte wie beispielsweise auch Max Nettlau eher den Willen der Menschen zum Sozialismus. Tatsächlich stammten beispielsweise bedeutende anarchistische Vordenker, wie Michael Bakunin oder Peter Kropotkin sogar aus dem Adel. Den Anarchosyndikalismus sehe ich dabei als eine Symbiose an.

Ohne seinerseits Klassenkämpfe auszuschließen, prägte Rudolf Rocker den bedeutenden Satz, „dass der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist“. Im Marxismus werden nach Hegel viel zu sehr die Gegensätzlichkeiten betont, Faktoren gegeneinander gewichtet und ausgespielt unter der Frage: Was ist wichtiger?! Der Anarchosyndikalismus bricht mit dieser Zwangsdialektik, indem er komplementär denkt. Es stellt sich eher die Frage: „Schließt das eine das andere aus?!“. Er denkt nicht notorisch in Gegensätzlichkeiten, sondern sieht auch das Gemeinsame. Es ist nicht esoterisch, „ganzheitlich“ zu denken, es wird es nur, wenn dies zwanghaft geschieht.

Natürlich ist diejenige gesellschaftliche Klasse, die unterdrückt wird, die Trägerin der Veränderungen zu ihren Gunsten. Wenn ihr Tun aber ausschließlich materiell motiviert ist, wird sie keine sozialistische Kultur hervorbringen, sondern nur andere Formen der Herrschaft. Und eine formal organisierte Arbeiterklasse an sich ändert erstmal gar nichts, denn:

„Man macht Tote nicht lebendig, indem man sie organisiert.“ (Rudolf Rocker)

In der Lebensmittelwirtschaft herrschen miserable Arbeitsbedingungen. Die FAU konnte neben Landarbeiter:innen z.B. im Spargel-Streik in Bornheim erfolgreiche Kämpfe führen und 100 000 Euro Lohnnachzahlungen für die rumänischen Saisonarbeiter:innen im 2020 erstreiten. Auch im Gastrobereich, ist die FAU aktiv oder unter Fahrradkurier:innen – der Deliverunion – und nicht zu vergessen in den Auseinandersetzungen bei Domino‘sPizza mit 14 000 Filialen in 80 Ländern. Hier treffen transglobale Konzerne auf lokale Arbeitskämpfe. Welches Potenzial siehst du?

Die Globalisierung der Produktion und auch des Arbeitsmarktes war bereits vor 100 Jahren in vollem Gange. Man denke an die massenhafte Arbeitsmigration polnischer Bergleute nach Deutschland oder an die Seeschiffahrt. Oder schauen wir ins Chikago der 1880er Jahre, nach London der 1910er Jahre mit illustren Beispielen anarchosyndikalistischen Internationalismus. Die Eigenbezeichnungen „Erste Internationale“ oder „Internationale Arbeiter-Assoziation“ (IAA) sprechen für sich und waren keine Lippenbekenntnisse. Auch die anarchosyndikalistische IAA brachte in Paris mehrsprachige Periodika heraus, die speziell auf „Gastarbeiter“ zugeschnitten waren, um diese fester zu organisieren. In der heutigen FAU gab oder gibt es eine „Foreign section“. Das ist ein guter Ansatz. Der Anarchosyndikalismus war stets international orientiert, die Zentralgewerkschaften hingegen national und kapitaltreu. Es kommt darauf an, wer das Rennen macht: Echte Gewerkschaften oder die Gewerkschaftsattrappen des DGB. Ideell hat die FAU hier beste Voraussetzungen. Sie braucht nur noch die Ressourcen, um internationale Kämpfe zusammenzuführen und zu koordinieren.

Migrantische Arbeiter:innen stehen auf der untersten Leiter der kapitalistischen Ausbeutung. Was beobachtest du und welche Herausforderungen bestehen, gerade mit migrantischen Arbeiter:innen?

Ein Problem liegt darin, dass viele von ihnen nur für kurze Zeit in Deutschland sind und damit schwer konstant zu organisieren. Um Anarchosyndikalismus auch als Kulturgut zu vermitteln und zu verinnerlichen, braucht es jedoch viel Zeit, oft Jahre. Wer nicht mit dem Herzen dabei ist, wird schnell wieder abgeworben. Anarchosyndikalistische Organisationen könnten verstärkt länderübergreifend zusammenarbeiten. Was nutzt eine tolle Idee, eine tolle Erfahrung, wenn ich in der Heimat doch wieder alleine dastehe mit den ganzen Sorgen? Wäre es nicht klasse, wenn überall, wo Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter auch hinverschlagen werden, hilfsbereite Genossinnen und Genossen sind? Auch das wäre eine zentrale Aufgabe lokaler Arbeitsbörsen. Vermittlung von: Deutschkenntnissen, Wohnungen (und ggf. Einrichtungen), Übersetzungen, Arbeitsrecht, Sozialberatung, Hilfen im Alltag, Anwälten, Vergnügungen, Hoffnungen und Menschlichkeit.

Acht Stunden Arbeit, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung. Das forderte der britische Frühsozialist Robert Owen (1771 – 1858). Es brauchte Jahrzehnte, um diese Forderung durchzusetzen. Du bringst auch die Forderung des 6-Stunden-Tages bei vollem Lohnausgleich ein. Wie schaffen wir es, diese berechtigte Forderung umzusetzen?

Die Entwicklung der Produktivkräfte, die rasch fortschreitende Rationalisierung der Wirtschaft ermöglicht seit über 100 Jahren, die Arbeitszeiten zu reduzieren. Nur funktioniert das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht bedürfnisorientiert, sondern irrational profitorientiert. Die steigenden Erträge kommen den Produzierenden nur geringfügig zugute. Eine kommende sozialistische Wirtschaftsweise ist den modernen Verhältnissen angepasst und bedürfnisorientiert ausgerichtet. Sie funktioniert nach Gesetzmäßigkeiten, die von der Bevölkerung selbst festgelegt werden. Es wird keine Erwerbslosen mehr geben, stattdessen wird die nötige Arbeit gerecht verteilt werden. Vielleicht ist bei Verzicht auf unnötige/unsinnige Arbeit ein 3-Stunden-Tag möglich oder eine Wochenarbeitszeit von zwei Tagen? Das Prinzip der Selbstverwaltung ergibt sich aus kollektiven Lernprozessen, die jeweils im Kleinen anfangen: Kenne deinen Betrieb, schaue über den Tellerrand, suche Kooperation, probiere aus, trage die Erfahrungen zusammen und reflektiere sie; Schau in die Geschichte, schau in andere Länder, bilde dich fachübergreifend.

Grundlegende Veränderungen werden nicht durch Minderheiten herbeigeführt werden. Es erfordert breite Bevölkerungsschichten, bestehend aus selbstbewussten und umsichtigen Persönlichkeiten, um die Gefahren neu entstehender Avantgarden zu bannen. Orwells „Animal Farm“ war kein fatalistischer Antisozialismus, sondern eine dringende Warnung.

Kannst du aus der Geschichte des Anarchosyndikalismus eine allgemeine Formel ableiten?

Ja, der Anarchosyndikalismus gedieh vor allem dort, wo sich sozialdemokratische/marxistische Organisationen noch nicht etabliert hatten. Aus der Historie des internationalen Anarchosyndikalismus lässt sich diese Formel ableiten:

Syndikalismus = Industrialisierungsgrad minus zentralistische Arbeiterorganisationen.

In Schweden reichte dem Kapital die sozialdemokratische Regierungsform gegen den Sozialismus aus, in Spanien und in Argentinien, aber auch in Portugal, in Brasilien, in Italien wurde der Anarchosyndikalismus derart stark, dass die Bourgeoisie und das Kapital in den 1920/30er Jahren auf faschistische Regierungsformen setzte. Am Ende der Diktaturen gingen marxistische Strömungen kommunistischer Parteien und „Gewerkschaften“ daraus in bewusster Konkurrenz zum Anarchosyndikalismus als Sieger hervor. Auch hier standen wieder Zentralisten gegen Föderalisten. Der Anarchosyndikalismus passt in kein „Rechts-Links-Schema“. Er steht als grundlegende Alternative außerhalb.

Der Syndikalismus entfaltete sich vor allem in den romanischsprachigen Ländern, da hier anarchistische Impulse maßgebend früh auf die sich herausbildende Arbeiterbewegung einwirkten (Süd- und Westeuropa plus Süd- und Mittelamerika). Wo marxistische Anschauungen vorherrschten (Deutschland, England), blieb der Syndikalismus marginal. In Russland und weiten Teilen Osteuropas konnte der enorme Einfluss anarchistischer und syndikalistischer Organisationen in Stadt und Land durch die bolschewistischen Marxisten nur gewaltsam diktatorisch gestoppt werden. In Spanien gedieh der Syndikalismus vor allem dort, wo das Feld noch nicht von der sozialdemokratischen UGT besetzt war, also viel mehr in Süd- als in Nordspanien. Auf Spitzbergen gab es im Bergbau für den Syndikalismus keine Konkurrenz, dafür eine eigene Sektion der IAA!

Schaut man noch genauer hin, wird aber auch deutlich, dass diese Formel nur ein grobes Schema ist. So gelang es dem glänzenden Agitator Rudolf Rocker in Deutschland örtlich durchaus, durch Vorträge den Zentralverbänden ganze Belegschaften von mehreren Hundert bis zu 2000 Mitglieder wegzuagitieren. Die Formel stimmt dennoch auch hier, da diese Neumitglieder recht zügig wieder abwanderten. Was Politologen und Soziologen, überhaupt vergeistigte Menschen oft vergessen: Für eine umfassende soziale Revolution braucht es bei den Genossinnen und Genossen neben viel Bildung auch Charisma, menschliche Wärme und Zutrauen, authentisches Überzeugungsvermögen und eben Mut.

Der Syndikalismus, entstanden im 19. Jahrhundert, ist maßgeblich geprägt durch die französische Arbeiter:innenbewegung, besonders die Erfahrungen der CGT. Der Schwerpunkt liegt im ökonomischen sprich gewerkschaftlichen Kampf mit dem Ziel der Arbeiterselbstverwaltung. Während Karl Marx (1818– 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895) die Partizipation am Staat und die zentralistische Machtübernahme anvisierten. Dieser uralte Konflikt prägt noch immer die politische Linke. Worin besteht deines Erachtens das Unvermögen? Und woran krankt die Bewegung noch heute?

Die von dir angesprochene Selbstpositionierung stellt schon manche unvorteilhafte Weiche. Die alten Syndikalisten hatten noch präzise Begriffe parat. Das Vokabular „links“ tauchte bei ihnen kaum auf. Sie setzten stattdessen auf klare Inhalte und bezeichneten sich:

ökonomisch als Sozialisten, politisch als Föderalisten und kulturell als Anarchisten, zusammengenommen als Anarchosyndikalisten. Das sind ganz andere Koordinaten, als sie heute oft gesetzt werden. Wenn du nicht weißt, wer du bist, weißt du auch nicht, wofür du kämpfst.

Was ist Anarchosyndikalismus heute? Wer trägt ihn? Wer ist heute nicht bürgerlich sozialisiert worden mit bürgerlichen Wertvorstellungen und Normen? Gibt es einen Gendersozialismus?

Konstruktiver ist wohl die Frage: Wer braucht Sozialismus? Und sind diejenigen auch die Basis für den Anarchosyndikalismus? Ist die FAU eine Kampfgewerkschaft oder eine studentisch geprägte Ideengemeinschaft? Letzteres hat mein komplementäres Denken und meine Toleranz ein ums andere Mal herausgefordert. Ohne die Eroberung der ökonomischen Macht gelingt keine sozialistische Veränderung der Welt, sondern in Deutschland bestenfalls liberalistische Modernisierungen/Erträglichmachungen kapitalistischer Zustände für privilegierte Schichten. Es mangelt an Bildung in Wirtschaftswissenschaften, in Geschichte und bei den anarchosyndikalistischen Klassikern. Es mangelt an Ernsthaftigkeit, Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen. Der Anarchosyndikalismus muss eine Erwachsenenbewegung werden.

Wagst du einen positiven Ausblick auf die Zukunft. Was ist zu tun?

Kleine, praktische und erfolgreiche Aktionen können motivierend sein und ein solidarisches Lebensumfeld. Viele leben bereits Formen des Anarchosyndikalismus, ohne es so zu bemerken oder zu betiteln. Das lässt sich bewusstmachen und ausweiten. Was im Kleinen nicht funktioniert, wird es auch nicht im großen Wurf.

Alles ist der Zukunft förderlich, was: bildet, Selbstbewusstsein, Urteilsvermögen und das Vertrauen in Kollektivität fördert, Selbstverwaltung einübt, Klassenbewusstsein herausbildet, uns zärtlich miteinander umgehen lässt, uns Ausdauer und Zuversicht bringt.


Anmerkungen:

  1. https://direkteaktion.org/100-jahre-faud/
  2. https://www.labournet.de/internationales/polen/gewerkschaften-polen/gewerkschaft-inicjatywa-pracownicza-ip-die-kosten-derklimakrise-muessen-durch-diejenigen-getragen-werden-die-sie-verursacht-haben/
  3. https://nachtkritik.de/recherche-debatte/der-autor-kevin-rittberger-und-der-anarchismusforscher-helge-doehring-im-gespraech-ueber-herrschaftskritik-mitbestimmung-und-selbstverwaltung-im-theater

Literatur:

  • Franz Barwich/Studienkommission der Berliner Arbeitsbörsen: „Das ist Syndikalismus“, Frankfurt 2005
  • Helge Döhring: Anarchosyndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung, Lich 2017
  • Helge Döhring: Konflikte und Niederlagen des Syndikalismus in Deutschland, Bodenburg 2022
  • Rudolf Rocker: Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus, Darmstadt 1950
  • Diego Abad de Santillan/Juan Peiró: Ökonomie und Revolution. Texte. Fabrik- und Stadtteilkomitees – Syndikalismus und die soziale Revolution in Spanien – Rolle der Industrieföderationen und des Anarchismus, Berlin 1975.
  • Augustin Souchy/Erich Gerlach: Die soziale Revolution in Spanien. Kollektivierung der Industrie und Landwirtschaft in Spanien 1936–1939. Dokumente und Selbstdarstellungen der Arbeiter und Bauern, neu herausgegeben im Verlag Barrikade, Hamburg 2012

FAU Schweiz

Die Freie Arbeiter_innen Union Schweiz ist eine Gewerkschaftsinitiative. Die FAU versteht sich als basisdemokratische und kämpferische Alternative zu den sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften. Die FAU ist anarchosyndikalistisch, denn sie ist:

KÄMPFERISCH: Weil die Interessen der Arbeiter_innen denjenigen des Kapitalist_innen radikal entgegengesetzt sind. Weil die grossen sozialen Fortschritte nur durch Kämpfe der Basis erreicht wurden.

SELBSTBESTIMMT: Weil Entscheidungen von den Direktbetroffenen getroffen werden sollen und nicht von Parteispitzen und Funktionär_innen. Weil Hierarchien im Gegensatz zu unserer Vorstellung einer freien Gesellschaft stehen.

SOLIDARISCH: Weil einzig gegenseitige Hilfe und branchenübergreifende Aktionen uns die Durchschlagskraft geben, um tiefgreifende Veränderungen zu bewerkstelligen.

ANTIKAPITALISTISCH: Weil wir diejenigen sind, welche alle Güter herstellen und alle Dienstleistungen erbringen, sollten wir für unsere Bedürfnisse produzieren und nicht für den Profit von einigen Wenigen. Wir denken deshalb, dass der Syndikalismus für eine gerechte, horizontale und freie Gesellschaft einstehen muss.

Helge Döhring

Helge Döhring, geb. 1972, Historiker und Literaturwissenschaftler, lebt in Bremen. Buchveröffentlichungen zur syndikalistischen und anarchistischen Arbeiterbewegung: „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918“ (2013), zum „Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945“ (2013) und „Organisierter Anarchismus in Deutschland von 1918 bis 1933“ (drei Bände, 2018-2020), sowie zur „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ (2011), zu den „Schwarzen Scharen“ (2011); kommentierte Bibliographie zur syndikalistischen Presse in Deutschland (2010). Regionalstudien zum Syndikalismus für Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Ostpreußen, Schlesien und Schleswig-Holstein. Verfasser des Buches „Anarcho-Syndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung“ (2017). Mitarbeiter und Mitbegründer des Instituts für Syndikalismusforschung und Mitherausgeber des Jahrbuchs „Syfo – Forschung&Bewegung“.

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