Dieser Artikel ist der erste Versuch einer politischen Einordnung der Geschehnisse der letzten Wochen und Monate rund um den Tagebau Garzweiler II. Ich war selbst nicht vor Ort, sondern stütze mich vor allem auf mediale Berichte und social-media, habe aber auch mit Menschen gesprochen, die vor und während der Räumung in Lützerath waren.
Die Vorgeschichte ist den Meisten wahrscheinlich bekannt: Unter Lützerath werden große Braunkohlevorkommen vermutet, die der Energiekonzern RWE abbauen und gewinnbringend verbrennen will. Seit etwa zwei Jahren leben daher Aktivist:innen im nordrheinwestfälischen Ort, der, wie über 30 Ortschaften zuvor, einem riesigen Tagebau weichen soll. Zum Einen wurde Lützerath besetzt, um die verbleibenden Bewohner:innen, die nach und nach von RWE umgesiedelt wurden, bei der Verteidigung ihres Dorfs zu unterstützen und gemeinsam mit örtlichen Initiativen die umwelt- und klimazerstörende Kohleindustrie zu stoppen. Zum anderen wurde dort ein Ort geschaffen, an dem Menschen sie selbst sein und sich frei entwickeln konnten:
Nachdem die letzten der ursprünglichen Bewohner:innen aufgeben mussten, blieben die Klimaaktivist:innen vor Ort und hielten die Besetzung der Siedlung aufrecht. In „Eckardts Hof“ dem Letzten, der nach einem Gerichtsentscheid an RWE übereignet wurde, zogen NGOs ein. Wie das bei „Klimacamps“ und vielen Besetzungen üblich ist, wurden auch im besetzten Lützerath und im „Unser Aller Camp“ im benachbarten Keyenberg jeden Tag anarchistische Ideale gelebt. Jede:r war willkommen, wenn sie:er das gemeinsame Ziel unterstützen wollte und konnte sich auf eigene Weise einbringen – ohne Zwang und ohne, dass eine Chefin oder eine Leitung bestimmte Aufgaben angeordnet hätte. Entscheidungen wurden gemeinsam im Dorf-Plenum getroffen. Was es gab, war eine Wissenshierarchie, also einen Unterschied zwischen jenen, die schon lange vor Ort waren und über die Verhältnisse besser Bescheid wussten und Neuankömmlingen. Im Sinne der “totalen Befreiung“ auch der mehr-als-menschlichen Mitwelt gab es nur veganes Essen für alle, natürlich kostenlos. Es wurde containert, foodsharing betrieben, es gab Lebensmittelspenden, Gartenbau und wer die Möglichkeit hatte, trug finanziell etwas bei.
Nachdem bekannt gegeben worden war, wann die Räumung voraussichtlich stattfinden sollte, wurde europaweit dazu aufgerufen, nach Lützerath zu kommen und die Besetzung zu unterstützen. Erklärtes Ziel war es, die Räumung so lange wie möglich hinauszuzögern. Hunderte folgten der Einladung, die Besetzung wurde befestigt. Es gab einige große Demonstrationen wie die am 14. Januar mit zehntausenden Teilnehmer:innen, Greta Thunberg und Luisa Neubauer waren vor Ort, das mediale Interesse war gewaltig.
Die Bundespolizei reiste ebenfalls an, in Kampfmontur und mit paramilitärischer Ausrüstung, setzte Schlagstock, Pfefferspray, Pferde, und Wasserwerfer ein gegen die Demonstrierenden ein. Es gab über 35 zum Teil schwer verletzte Demonstrant:innen. Selbst auf am Boden liegende Verletzte wurde weiter eingeschlagen. Aktivist:innen, die sich nicht in vorbereiteten Strukturen befanden, wurden überrannt und geräumt. Es kam zu unfairen Kämpfen im Matsch, am Ende wurde das Dorf geräumt und abgerissen – mit einer kurzen Verzögerung durch zwei Aktivist:innen, die sich in einem unterirdischen Tunnelsystem befanden. Ursprünglich rechnete Polizeipräsident Weinspach mit einer Einsatzdauer von sechs bis acht Wochen – letztendlich dauerte die Räumung von Lützerath nur etwa eine Woche.
Aus Sicht einer Aktivistin vor Ort war ein Schwachpunkt der Verteidigung von Lützerath, dass viele Aktivist:innen erst kurz vor der Räumung, währenddessen oder danach eintrafen: Nachdem die Bodenstrukturen von der massiven Staatsmacht und RWE geräumt waren, wurde Lützerath mit einem doppelreihigen Bauzaun inklusive Fahrbahn für Einsatzfahrzeuge effektiv abgeriegelt. Versuche, noch nachträglich ins Dorf zu kommen, scheiterten zumeist schon am Zaun durch ein massives Aufgebot von aggressiven Cops.
Bei den Protesten gegen die Räumung zeigte sich eine „Vielfalt der Taktiken“, es gab also sowohl gewaltfreien zivilen Widerstand wie Sitzblockaden und Latschdemos, als auch militantere Protestformen. Natürlich wurden die „friedlichen“ Aktivist:innen von Polizei und Politik mehrfach aufgefordert, sich von den „gewalttätigen“ Protestierenden zu distanzieren. Zu einer nennenswerten Spaltung der Bewegung führte das meines Wissens nach aber nicht.
Es sprachen vor allem im Vorfeld viele Menschen von Lützerath aus mit der Presse, dennoch lies es sich vermeiden, das Sprecher:innen in der öffentlichen Wahrnehmung zu Führungspersonen stilisiert wurden. Natürlich wurde Personen des öffentlichen Lebens, wie der eingangs erwähnten Luisa Neubauer oder Vertreter:innen von Natur-, Umweltund Klimaschutzgruppen, besondere Aufmerksamkeit zuteil – jedoch auch nur als normale Akteur:innen innerhalb eines vielfältigen Protestbündnisses.
Das Dorf Lützerath wurde bekanntermaßen sehr schnell geräumt und abgerissen. Dass Lützerath gegen massive Polizeigewalt nicht ewig verteidigt werden kann, war klar, aber der Protest in Lützerath war insofern dennoch erfolgreich, als dass er einmal mehr den Kampf für Klimagerechtigkeit auf bundesdeutschem Gebiet mit drastischen Bildern von Polizeigewalt ins öffentliche Bewusstsein gebracht hat. Der Deal der „Grünen“ mit RWE konnte nicht diskret an der Wähler:innenschaft vorbeigeschmuggelt werden und die Dringlichkeit von Kohleausstieg und konsequentem Klimaschutz – und welche Rolle dabei der Staatsregierung zukommen kann und soll - wurde in allen großen Medien erneut thematisiert.
Am Beispiel von Lützerath treten wieder einmal die Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demokratie zu tage und zwar so deutlich, dass sie nicht nur durch die staatskritische Brille, sondern auch für „Normalwähler:innen“ sichtbar geworden sind: Viele Menschen haben bei den letzten Wahlen ihre Stimme der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ gegeben, weil sie sich eine konsequente Klimapolitik erhofften. Statt diese umzusetzen, vereinbarte die Regierungspartei unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen fadenscheinigen Deal mit dem Energiekonzern RWE und ließ Lützerath räumen. Der Deal bedeutet keinerlei CO²-Einsparung. RWE wird zwar evtl. 8 Jahre früher aus der Kohle aussteigen, dafür aber bis dahin die selbe Menge an Kohle verbrennen, nur schneller! Damit verfehlt Deutschland ganz klar die gesetzten Klimaziele. Zusätzlich erhält RWE 2,6 Mrd. Euro für den „Ausstieg“. Der entsprechende Glaubwürdigkeitsverlust der „grünen“ Partei ist der vorerst letzte in einer langen Reihe von gebrochenen Wahlversprechen, die das herrschende politische System durchzieht. Die großen Klimaproteste zeigen deutlich, wo der deutsche Staat, unabhängig von der jeweils aktuellen Regierungspartei, steht: Wissenschaft und Zivilgesellschaft fordern seit Jahren und Jahrzehnten Klimaschutz, oberste Priorität in der sogenannten Realpolitik hat jedoch die Wirtschaft, insbesondere deren Wachstum.
Die Meinungsumfragen, die von verschiedenen Zeitungen publiziert wurden, unterscheiden sich zwar teilweise stark und sind vermutlich nicht repräsentativ, zeigen aber durchweg, dass ein guter Teil der Bevölkerung (zwischen 30 und 50 Prozent) der Besetzung von Lützerath wohlwollend gegenüber stand. Das Mittel der Besetzung an sich und andere Formen zivilen Ungehorsams werden immer mehr als legitime Protestformen angesehen, auch gegen Staat und Polizei, die die Interessen von Konzernen wie RWE durchsetzen. Auch Sprecher:innen bürgerlicher Initiativen wie „Die Kirche im Dorf lassen“ machten deutlich, dass „die Regierung mit Widerstand“ rechnen müsse.
Die Klimabewegung ist gesellschaftlicher Mainstream, spätestens seit „Fridays for Future“ – und wenn wir uns die Proteste um „Lützi“, aber auch vergangene Kämpfe wie im Hambacher oder Dannenröder Forst ansehen, transportiert sie auch weitere wichtige Inhalte wie Intersektionalität, Feminismus und Antikolonialismus. An der heutigen Klimabewegung wurde anfangs vehement kritisiert, dass sie mehrheitlich weiß und anderweitig privilegiert sei – und das wird mittlerweile tatsächlich aufgearbeitet! Bei „Ende Gelände“ gibt es schon seit einigen Jahren einen BIPoC(1)-Finger, in Lützerath wurden aktionsfähige Rollstühle herangeschafft und insgesamt wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass alle Menschen nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten an Protesten teilnehmen können und wollen. Die Aktivist:innen in Lützerath gaben sich viel Mühe, Rassismus sichtbar zu machen und dessen Mechanismen aufzuarbeiten. Freilich gibt es dabei auch noch viel Luft nach oben.
Die Aufmerksamkeit wurde auf Klimagerechtigkeit gelenkt, sprich auf die Auswirkungen unseres lokalen Handelns auf die Länder des globalen Südens. Verschiedene Gruppen verbinden und besuchen sich gegenseitig im Sinne einer inter- oder antinationalen Klimagerechtigkeitsbewegung: Im Lützerath waren Unterstützer:innen von allen Kontinenten vor Ort, Aktivist:innen aus Lützerath nahmen an der „Karawane für Wasser, Schutz allen Lebens und Autonomie„ in Mexiko teil. Es gab in Ländern des globalen Südens etwa in Kampala (Uganda) und Poso (Indonesien) Soli-Demos für Lützerath während der Räumung.
Der Protest dauert an, denn die Kohle unter Lützerath befindet sich immer noch im Boden, wurde also noch nicht verbrannt. Wenn es im Anarchismus darum geht, unseren Mitmenschen zu vermitteln, dass staatliche Gewalt und Gesetze, die den Menschen und dem Planeten schaden, nicht alternativlos, sondern veränderbar sind und dass wir gemeinsam etwas erreichen können, sollten wir die Geschichte von Lützerath weiterverbreiten.
Danke an alle, die dort waren und natürlich auch an die, die von anderswo Unterstützung geleistet haben!
(1) - Die Abkürzung "B(I)PoC" ist ein Begriff, der sich auf Schwarze, Indigene und People of Color bezieht. Mit dem Begriff sollen explizit Schwarze und indigene Menschen sichtbar gemacht werden, um Antischwarzem Rassismus und der Unsichtbarkeit indigener Gemeinschaften entgegenzuwirken